Sonntag, 13. März 2016

Berthold Daut:
Gedichte vom 50. und 52. Breitenkreis
Wiesbaden (Galeas Labhras) Dezember  2000 (Neuauflage 2004)


    Diese letzte große autorisierte Sammlung seit „Stimmen und Schatten“ (1993) umfasst vierundzwanzig Gedichte in drei Abteilungen. Sie sind ungebunden geblieben, jedoch sehr schön in Aldonecaps DB auf Epson Stylos Color 640 gesetzt. Typographisch ist das alte Problem der Klein- oder Großschreibung dadurch gelöst, das alles in Majuskeln geschrieben steht. Diese Wahl bewirkt eine gewisse Schwere, scheint wie gemeißelt, kartographiert und vielleicht dadurch dem Titel angemessener. Der 50. Breitengrad läuft durch Wiesbaden, der 52.  durch Südirland, so dass sich thematisch wie personell eine Verbindung durch die Topographie ergibt. Der erste Block enthält sechs Gedichte auf und um Wiesbaden, deren erstes, „Wiesbaden 1944“ - die Bombardierungen und der Tod des Freundes - bereits in den „Elf Gedichten“ den kleinen Zyklus eröffnete. Das sind wie auch das Gedicht an den Antiquar von Goetz bemerkenswerte Wiesbaden-Gedichte, die persönlich erfahrene Zeitgeschichte punktuell erinnern.
   Der zweite Block stellt sieben irische Inhalte vor und hat im Zentrum einen Besuch am Grabe von William Butler-Yeats. Wiederum schließt mit elf Gedichten danach eine letzte Zusammenschau in einem umfassenderen Blick auf Paris, Prag und Griechenland, wo geographisch und geistig der Horizont zurückliegender Erfahrungen abgeschritten wird.

A: Wiesbaden
   Die ersten drei Gedichte knüpfen der Form nach an die „Zehn Gesänge“ aus „Stimmen und Schatten“ an: es handelt sich um Zehnversler mit unregelmäßigen Rhythmen vom Alexandiner bis zum Hexameter u.a.m. Während „Wiesbaden 1944“ also biographisch narrativ ist, erlebt man „Andreasmarkt 1952“ nach als kompakte nominale Beschreibung, die in der ersten Strophe in eine dynamische Drehbewegung gerät, denn die Betrachter dieses bunten exotischen Kirmes sind Primaner. Das herangewachsene jugendliche Ich bricht im dritten Text „Aquis Mattiacis“ (den Wassern der Mattiaci) mit seinen Freunden aus der Stadt auf. Der lateinische Titel spielt auf die Inschrift im Kurhaus von 1887 an, das der antiken Göttin Hygieia, der Tochter des Asklepios, gewidmet ist. „Mattiaci“ sind die germanischen Ureinwohner Wiesbadens, die Chatten.

STADT,STAMMORT,DAMPFBAD VERMISCHTER GEFÜHLE,
JAHR ÜBER JAHR BLIEB ICH UND FLOH, VERWUNDERT
VIEL ÜBER HÄUSLICHE REGELN, INS ZELT DER TRÄUMER;
STEINBRÜCHE HALLTEN VON UNSREREN LIEDERN, FEUER
BRANNTEN INNEN UND AUSSEN, SCHWÜRE DER FREUNDSCHAFT,
BLUTIG BESIEGELT RIEFEN HEROISCHE ZEIT…

…Am Ende der Aufbrüche empfängt den durch sie verwandelten Zurückkehrenden wieder die Heimatstadt mit ihrer antikischen Aura, deren Schleier weggerissen wurden:
SIEGEL SIND HEUTE GESETZT; DAS SCHÖNESANK WIEDER HINWEG.
SCHEINEN KANN ES ALLEIN IM BILD DES GEDICHTS.

   Das vierte der Gedichte besteht aus fünf ungereimten Vierzeilern: „Die starken Frauen meiner Vorfahren“ und beschreibt nicht ohne Respekt diejenigen Frauen der Familie, die aus „Waldgebirgen“ und „rauhen Nestern“ vor Generationen aufbrachen, um das Glück in der Stadt zu suchen und zu finden.
   Die beiden letzten Wiesbaden-Texte sind Spurensuche und imaginative Evokation antikischer Elemente in der Gegenwart. „Am Römertor“, das 1902 neben Resten einer antiken Wasserleitung wiedererrichtet worden war, vermischen sich in einem Fest Zimbeln und Pauken neben den Ruinen der Synagoge, während schreiende Plakate kontrastiv zu touristischen Reisen nach Ninive und Rom einladen.
   Eine letzte „Botschaft an einen römischen Legionär“ ist eine solidarische Einladung an den Fremden, die römische Zivilisation zugunsten eines germanischen Alltags zu verlassen:
LASS UNS KÖRNER ZERREIBEN AM FLUSSUFER,
SPEISE FÜR DIE GÖTTER DER WÄLDER
SIE WECHSELN TÄGLICH IHR GESICHT.

B: Vom 52. Breitengrad
Hier zunächst die Titel der sieben Gedichte:
-Medieval Banquet
- Leamcon Tower
-Die Buch von Yougal
-Thoor Ballylee
-Yeats Grab, Drumcliff
-Der Wind
-Das Licht und das Alphabet

    Das „Medieval Banquet“ weist nunmehr in den englischsprachigen Bereich und bildet zeitlich und formal (Zehntversler) den Übergang in den keltischen Westen, von dessen touristischer Ausprägung  („ein täuschendes Zeitbild“) sich sofort distanziert wird:
NEIN, NICHT LÄNGER DIES LAND DER SÜFFIGEN PRÜDERIE!
AUF KLAPPERNDE ZIEGEL PEITSCHT UNSER SALZIGER WIND;
REITET AUF WOLKEN UND SAND OHNE SPOREN UND ZÜGEL.

   Man scheint im County Cork angekommen zu sein inmitten der Natur. Aber was lastet im Gepäck und was nimmt man, von Voreinstellungen ungeprägt, so wahr, wie es vielleicht ist? Das war immer bei Berthold Daut die Frage im fremden Terrain, sobald seine Versprachlichung der „couleur locale“ oder des „genius loci“ durch das Gedicht ansetzte.
   In Bezug auf Irland hatte jeder Reisende natürlich Heinrich Bölls „Irisches Tagebuch“ (1957) im Kopf und kannte Westirland mit „Achill Island“ schon, ehe man nach Mayo oder Connemara aufbrach, in ein vergessenes Land, woher man zumindest mit einem authentiscen weißen Strickpullover heimkehrte. Andere kamen von Dublin her, hatten versucht, „Ulysses“ von James Joyce zu lesen, ehe sie Zugänglicheres in der Folklore fanden.
   Berthold Dauts Interessen und Erfahrungen sind von individuell komplexer Prägung durch frühe Fahrten in die keltische Bretagne u.a. nach Carnac, durch Mythologie und sein geographisch-historisches Interesse an Megalithkulturen, durch seine späten Forschungen in der Alchemie und vor allem durch seine Lektüren, die, wie wir sahen, sich in seiner lyrischen Produktion wiederfinden. Er ist selten ein unbefangener Dichter, eher ein gelehrter, ein „poeta doctus“, dessen Wahlverwandter in dieser letzten Periode der Ire W.B.Yeats wird. Methodisch bedeutet das für den Kommentator, die Gedichte quasi einzurahmen durch knappe, notwendige Informationen, die Verse aber für sich selber sprechen zu lassen, obwohl in dem einen oder anderen Zusammenhang wie z.B. der Alchemie umfangreiche Materialien im Nachlass weiter verfolgt werden könnten.
   Wir nähern uns auf dem 52. Breitengrad der Küste Südirlands mit einem markanten Leuchtturm bei Hull/Schull in der Nähe des neuen Wohnsitzes. Er ist personifizierte Geschichte.


LEAMCON TOWER
IRLANDS TÜRME GRÜSSEN SICH NACHTS
MIT GRELLEM GELÄCHTER,
RUFEN SICH BEISSENDE WITZE ZU
MIT RUINÖSEN POINTEN:
ZAHNLOSE ALTE MÄNNER SIND SIE,
DIE KAUM EINER VERSTEHT.



SCHWARZE WURZEL; NABE DES HORIZONTS,
EINE STERNKARTE DROBEN, EINE SEEKARTE HIER,
GRAUKOPF AUF DEM QUARZIT
EINÄUGIGE ÜBER-SICHT:

SELBST BONAPARTE KEHRTE VOR EUCH UM.
STECKT DIE FACKELN AN,
HALTET DIE FRIERENDEN KNOCHEN
ÜBER DIE KOHLEBECKEN!

WAR ES HIER; WO EINER DIE ODE AN DEN WESTWIND SCHRIEB?

   Und da ist sie wieder am Schluss, die literarische Spurensuche, hier in Form einer Frage, auf die der Dichter die Antwort sicherlich kennt, die Analogie jedoch wie ein Zierrat an den Schluss stellt und die Situation dadurch überhöht. Nein, Percy Bysshe Shelley schrieb seine spätherbstliche „Ode To The West Wind“ 1819 nicht hier, sondern in Italien am Mittelmeer, in dem er später umkam. Es sind übrigens fünf Sonette mit Terzinen und abschließenden doppelten Endversen.
   Der nächste Ausflug entlang der Küste geht nach Youghal zwischen Cork und Waterford:

DIE BUCHT VON YOUGHAL
DU SAGTEST: DEIN MEER
DARIN WILL ICH VERGEHN.
ICH SAGTE: DEIN LICHT
DARIN WILL ICH STEHN.
WOGENDE SEE
BEDECKTE DIE MUSCHEL IM SAND.
KORALLE ERGLOMM
IN FLÜCHTIGEM BRAND.

O STEINE ROLLT LOS!
DIE BUCHT VON YOUGHAL IST SCHWARZ
UNTER DEM LEILACH DER WINDE.
WIE GLITZERT DAS SALZ!

   Leichlach ist ein urspünglich mittelhochdeutsches Wort für Leinentuch, das hier metaphorisch Wind und weißlicher Salzfläche in ihrem Zusammenspiel versinnbildlicht.
   Zwischen Limerick und Galway bei Gort in Westirland liegt

THOOR BALLYLE
DAS IST ALSO DEIN TURM, YEATS,
DAS IST DEIN GRÜNER FLUSS
WIR GEHEN AN EINEM SONNIGEN TAG
DEN ULMENWEG ENTLANG
DEINE STEINERNE TREPPE
WIR SEHN AUS DEINEM FENSTER:
HIER HAST DU GESONNEN
WIE ES DICHTER EIGEN
DIE GERN AUF FLIESSENDES WASSER SCHAUN
WÖRTER HERANTREIBEN LASSEN
UND STIMMEN:
HIER BLÜHTE DIE ALCHYMISCHE ROSE WIEDER AUF
WENN IN DER MITTERNACHT
DER BLEICHE MOND UND SEIN GEHELMTER GLANZ
DICH TRIEB:

   Yeats hatte zwischen 1919 und 1929 diesen festungsartigen Turm aus dem 16. Jahrhundert vor allem im Sommer mit der Familie bewohnt und nach ihm ist seine wohl berühmteste Gedichtsammlung, „The Tower“ von 1928 benannt. Heutzutage befindet sich dort ein „Yeats“-Museum. Die laut Dauts Gedicht hier wieder aufblühende “alchymische Rose“ ist freilich nur in persona des Verfassers von „Rosa Alchemica“ zutreffend, denn dieser so betitelte Bericht stammt von 1913 und ist nicht im Turm entstanden. Das hindert Berthold Daut in seiner empathischen Aneignung von Ort und Person nicht, einige versteckte Anspielungen in seinem Gedicht anzubringen. Die großen kosmischen Wandlungssymbole der Alchemie verbinden sich mit dem Dichter: „hier hast du gesonnen“, mitternächtlich zwischen dem Zeitfluss (am echten grünen Fluss) vom Mond angetrieben, dessen Glanz noch verdeckt scheint, wobei „gehelmt“ wohl auf Yeats Sammlung „The Green Helmet“ (1910) verweist. Sieht man in Yeats „Rosa Alchemica“ versteht man „aufblüht“ als erste, initiierende Begegnung mit einer kultischen Alchemie.
   Diese Verwendung alchemischer Symbole geht weiter als Dauts Anlehnungen in den literarischen Hommagen an Lasker-Schüler, Celan oder Char. Um dies zu verstehen, müssen wir uns auf Spurensuche bei Yeats begeben, um danach zu dessen encodierten Spuren im Turmgedicht Daut zurückzukehren.
   In seinem Bericht von 1913 fasst Yeats im Rückblick auf eine kleine eigene Arbeit namens „Rosa Alchemica“ die wesentlichen Erkenntnisse seiner Recherchen zusammen: Die alchemistische Doktrin sei nicht nur eine chemische Fantasie, sondern eine Philosophie, die die Welt, die Elemente und den Menschen selber beträfe. Die Suche nach Gold sei die nach einer universellen Verwandlung aller Dinge in etwas Göttliches und Unvergängliches. Für ihn selber ermögliche diese Perspektive die Verwandlung von Leben in Kunst mit einem maßlosen Wunsch nach einer völlig spirituellen Welt. Sein Haus in Dublin war mit allerlei inspirativen Kunstwerken und für ihn notwenigen Symbolen dekoriert, unter anderen mit einem Madonnenbild von Carlo Crivelli, in der Maria eine Rose in der Hand hält. Auch eine Reihe Symbolfiguren gehörten dazu, von denen die Alchemisten annahmen, dass ihre Zerstörung eine Suche nach einer Essenz sei, die alles Vergängliche auflöse. In einer Träumerei glaubt er sich an der Schwelle dieses Prozesses, wird dabei jedoch aufgeschreckt durch die Ankunft seines alten Freundes Michael Robartes. Dieser gehört dem Orden der Alchemischen Rose an und unterzieht ihn mit Hilfe von Duftessenzen einem hallluzigenen Experiment, in dem die Rosenblätter sich in einzelne Gottheiten verwandelt haben. Yeats fällt in eine Vision, eine „hysterica passio“,  unendlicher Dinge, aus der er völlig verwandelt erwacht und mit seinem Freund aufbricht zum Tempel des Orden am Meer, wo eine kultische Tanz-Initiation in einem runden Raum mit einer unsterblichen Tänzerin stattfindet und wo er in der Bibliothek auf die Werke großer Alchemisten und das Rosensymbol trifft.
   Soweit die Hinweise zum Zitat der „alchymischen Rose“. Yeats Interesse an okkulten Zusammenhängen (Theosophie, Mystik, Neuplatonismus u.a.m.) setzt allerdings schon sehr viel früher an und entwickelt sich durch seine medial veranlagte Ehefrau nach dem 1.Weltkrieg zu einer tranzendenten Manie, die seine literarische Produktion direkt und indirekt markiert. Dieser persönliche Synkretismus verbindet poetisch symbolische Denkformen mit den natürlichen Bildern der Welt, und im besonderen Irlands. Diese Ambivalenz geht immer in Richtung auf eine Spiritualisierung und damit auch Entgegenwärtigung des Konkreten. Die irische Renaissance gegen Ende des 19. Jahrhunderts, zu der Yeats mit „The Celtic Twilight“ (1893) und seinen Theaterstücken maßgeblich beitrug, hatte die Grundlagen für eine romantisch-mytstisch-mythologische Naturbetrachtung gelegt.
   Leitsymbole sind bei Yeats, wie gezeigt, die Rose („The Rose“, 1893) mit zunehmend alchemistischen Aspekten, die Gestirne, Türme (S. 270: „Symbols: A storm-beaten old watch-tower“) und besonders die megalithischen Steinkreise („gyres“) als verweisende spirituelle Formen, von denen es in Irland eine ganze Reihe mehr oder weniger gut erhaltene gibt. „The gyres“ eröffnet „Last Poems“ (S. 337) und zugleich die Vision einer Ewigkeit wie schon zuvor in „The second coming“ (S. 210 f.).[1]

   Berthold Dauts Aufbruch nach Irland trug ihn zunächst in eine symbolische Naturwelt, die sich im Lande der Nacht des ersten der Zehn Gesänge  („Stimmen und Schatten“, S. 104) auftat: Der Wind

Verschwisterte mich den Wipfeln riesiger Sternenbäume.
IHR steht im Steinkreis, Ihr tragt schimmernde Mäntel und Schuhe,
Gemessen geht ihr die Linien ab, die Muster des Seins.
   Auf den Spuren von Yeats im Turm ist es demnach ganz selbstverständlich, dass die Dinge in einem symbolischen Bedeutungszusammenhang stehen, der hier kein untergeschobenes hermeneutisches Konstrukt ist. Berthold Daut nimmt diese doppelte Optik des großen verwandten Iren ein, die und der sich hier konkret als Ort und Gedicht vergegenwärtigen. Daut  hat äußerlich wie innerlich gefunden, was er lange suchte. Er ist auf dem 52. Breitenkreis, nicht etwa auf dem Breitengrad, weiterhin auf Spurensuche im Nordwesten und zugleich in Yeats letzten Gedichten:

YEATS GRAB. DRUMCLIFF
EIN ANSPRUCHSLOSES GRAB, GEREIHT,
AUF GRAUEM KIES ZERKNIRSCHT DIE ZEIT
DEN SPRUCH MIT KALTEM AUG
DER LEBEN ODER TOD VERHEISST.

REITER; REIT ZU; DER MORGEN GRAUT,
DIE NACHBARN KEHREN ZURÜCK INS GRAB
VON KÜSTEN SCHREIT DER WESTWIND LAUT
UND VIELER HUFE HELL GETRAB!

WIR BRACHTEN EINEN BLUMENSTRAUSS
VOM STRASSENRAND ZU DEINER RUH.
DU MIEDEST MENSCH- U/ND MEERGEBRAUS
UND ZOGST DEN LETZTEN VORHANG ZU.

   In Yeats letztem Gedicht „Under Ben Bulben“ vom 4. September 1938 – er starb am 28.Januar 1939 – verfügte er über seinen Begräbnisplatz :
Under bare Ben Bulben’s head
In Drumcliff churchyard Yeats is laid.
An ancestor was rector there
Lomg years ago, a church stands near,
By the road an ancient cross.
No marble, no conventional phrase;
On limestone quarried near the spot
By this command these words are cut:
Cast a cold eye
On life, on death.
Horseman, pass by!
(Poems, S. 400 f.)
                                                  
   “Der Wind” setzt diese irische Passage Berthold Dauts fort und versöhnt den Leser in Erwartung einer einseitigen irisch-symbolischen Manier. Dieser Text weht aus Kindertagen herauf und ist reine Erinnerung. Näher an einer okkulten Vision  beschließt „Das Licht und das Alphabet“ diesen Block: Das Ich träumte, ein bärtiger Mann mit Psalter führte ihn in eine mumienhafte Runde verhüllter Figuren mit Büchern auf dem Schoß, aus denen Licht emporstieg.
MEIN FÜHRER TAT DEN PSALTER IN DIE MITTE,
DA WICH DAS MURMELN DEM GESPANNTEN SCHWEIGEN,
ALS OB EIN UNSICHTBARER NIEDERGLITTE:
ICH FÜHLTE WIRBEL MEINE HAARE STRÄUBEN.

   Den dritten und letzten Block mit elf Gedichten vom 50. und 52. Breitenkreis  kennzeichnet eine große thematische Heterogenität, über die wir hier nur noch einen knappen Überblick geben. Davon sei das letzte Gedicht „In einem anderen Ton“ in unser Schlusskapitel mit Berthold Dauts letzten drei Gedichten vorschoben. Diese Texte sollen dann nicht mehr kommentiert werden.
   Der „Passage Choiseul“im Pariser 2.Arondissement ist eine der letzten, von der Bauwut bedrohten kleinen Passagen aus dem 19. Jahrhundert. Berthold Daut erlebt diesen vergessenen Ort voller besonderer „Männer mit saturnischen Stirnen“ und ihrem nächtlichen Ritual, das, da fern vom jüdischen Viertel, eher eine Vision des Autors ist, der die „entgrenzten Köpfe“morgens mit leeren Mägen erwachen lässt.
   In „Prag. Dezember 1990“ wird ebenfalls am Schluss dem vergangenen goldenen Zeitalter nachgespürt, das seiner Wiedergeburt am „Boden alter Kelche“ ent egenharrt und im Schmelzofen der Alchemisten („Athenor“) noch matt glüht.
   „Hieronymus im Gehäus“ ist ein Bildgedicht auf den heiligen Bibelübersetzer vor seinem Buche, wegen des animalischen Dekors eher auf den Stich Dürers als auf das Bild von Da Messina bezogen.
   Ebenfalls nah der hermetischen Metaphorik ist „Scintilla“ (der Funke), der sich entflammen soll, DEN STARREN KRIST ZU TAUEN!
   Die folgende „Ode an Heraklit“ folgt in ihren knappen Versen keinem bekannten Odenschema. Sein poetisches Andenken steht im Zusammenhang mit den Elementen Licht/Blau, Flut und Stein, also der Vier-Elementen-Lehre der Vorsokratiker, die jüdische, christliche und hermetische Deutungen erfahren haben.
GANZ ZU MIR
HEIMGEKEHRT:
DEN PHALLISCHEN SPRUCH
GEZÜCKT.
Sucht man unter den Fragmenten nach einer Erklärung , - von Heraklit stammt „Das Wesen der Dinge hat die Angewohnheit, sich zu verbergen“ (Fragment 123: „physis krypthestai philei“)), geht das wohl weniger in die Richtung seiner Kritik an den Dionysuskult als elementar um eine Analogie zwischen vertikaler Feuerflamme und Phallus, was hier mit dem vierten der Elemente die sinnvollste Lösung für die Ode wäre.
   Ebenfalls ein Abstieg ins Mythische der griechischer Antike erfolgt evokativ mit dem folgenden Meererlebnis in „Agios Nikitas“.
   Ein neues Symbol mit erotischer Komponente, ein Granatapfel, wird 1999 in dem  nächsten Gedicht der Geliebten überreicht.
   Von besonderem Gewicht ist sodann die „Dithyrambe beim Wiedererscheinen der „chymischen Medizin“des Johannes Agricola“, Olivier Humbert gewidmet, das in der Zeitschrift Hermes Nr. 17 im Jahr 2000 erschienen war. Daraus die letzte Strophe:
                               WERK VON GEWICHT
       UND NOCH ERST ZU ERSCHÖPFENDER PURGANZEN,
   DRÄNGT NUN DEN LABORANT, DEN ARZT ANS GROSSE WERK
DAS TRINKBAR GOLD VERSPRICHT UND SICH IM LEIB ENTHÜLLT:
   ES MÖG ZU WEISEM TUN AUCH GOLD IM KOPF GEDEIHN
       ZU NEUER ALTER KRAFT ENTFESSELN SEINEN SCHEIN.[2]

… Das „opus magnum“, das „grosse Werk“ der Alchemie, ist auch bei Kunrath medizinisch interpretierbar zur Wiederherstellung von Körper und Geist. Im anschließenden Text gerät die literarische sensible Pierrot-Figur auf diese Bahn:
DU WIRST DIE GOLDENEN SPUREN SEHEN:
LES OMBRES MIRACULEUSES.
SIE WANDELN HIER UNABLÄSSIG
UND RAUNEN MIT MUSCHEL UND WIND.
   Sieht sich das lyrische Ich  - von Gesichtern umringt -nun in diesem Kontext gefangen,, verfolgt oder behütet?
HORCH IN DIE NACHT!
STUNDEN WIE GESPULT
KEINE PRACHT,
ICH WAR ERWACHT
IM HAUSE DES ICH-BIN.

HAND LIEGT SO SCHWER
AUF ALTEN BÄNDEN.
REIHEN; DIE MICH RINGS UMSTEHN.
EIN GANZES MEER
EIN STUMMES HEER
VON WÄCHTERN, die ich ausersehn.

OHR IST NUN DOLCH
MUND IST WIE SAND.
WAS NUN ERKLINGT
GESICHTE ZWINGT
SIE DRÄNGEN DURCH DIE WAND.

   Das Schlussgedicht, das wir zu den von uns betitelten letzten Stimmen verschieben, überrascht wirklich, so der Titel „In einem anderen Ton“, signalisiert: hier knüpt Berthold Daut in den komprimierenden Wortschöpfungen an seine Sprache der Siebziger an. Leider in resignierten statt in revoltierenden Gesten.





[1] 1 Text der Rosa Alchemica s. unter www.online-literature.com/yeats/2534/. Die Gedichte vgl. W.B.Yeats: The Collected Poems. London (Macmillan) 1965.
[2] 2 Vgl. Johannes Agricola: Chymische Medizin. Ed. Olivier Humberg. Elberfeld 2000 mit 1408 Seiten. Zu Khunrath  vgl. Daut 2000 und allg. Ralf Töllner: Der unendliche Kommentar. Untersuchungen zu vier ausgewählten Kupferstichen aus Heinrich Khunraths „Amphitheatrum Sapientiae Verae“ – Hanaus 1609. Ammersbek 1991.

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