Sonntag, 13. März 2016

Bertholt Daut:
Übertragung von Paul Valéry: „Le Cimétère marin“ (1920)
Französisch und Deutsch, Wiesbaden: Galeach Labhras 2002 o.S. .
   
   Paul Valérys wohl bekanntestes Gedicht, eine Meditation auf dem Friedhof in seiner Geburtsstadt Sète am Mittelmeer, ist mit 24 Strophen von jeweils sechs gereimten Versen von epischer Länge. Das Reimschema ist aa b cc b, d.h. zunächst gepaart und dann die neue Paarung umfassend. Das Hauptcharakteristikum ist jedoch das Versmaß des Hendekasyllabus, d.h. eines Zehnsilblers mit Blöcken von vier und sechs Silben.
   Übersetzungen dieses „Cimétière marin“ ins Deutsche liegen von Rainer Maria Rilke (1925), Ernst Robert Curtius und Friedhelm Kemp vor, die alle schwer zugänglich sind. Berthold Daut lag Rilkes Übertragung vor, mit der er sich, so das Vorwort von Cordula Daut, „nie so recht anfreunden“ konnte. „Er wollte selbst einen neuen Versuch der Übertragung wagen, zumal es auch für ihn einen solchen Friedhof gab. Er überblickt die Bucht von Schull in Irland.“ Das entspricht in einer existentiellen Analogie, wie wir sahen, völlig der Dautschen poetischen Methodik der Annäherung an die ihm innerlich und thematisch verwandten Dichter. Neu ist, dass hier nicht Formen oder Bilder ins Eigene hineinwirken, sondern dass umgekehrt Daut in seiner Übersetzung dem Anderen so nah wie möglich zu kommen hat in seinem dichterischen Verständnis und vor allem seiner sprachlichen Kompetenz. Abgeschlossen ist dieser Versuch am 14. September 1996 und kurz nach seinem Tod zu seinem Andenken 2002 erschienen.  
   Um im Netz eine weitere Übertragung zugänglich zu machen, geben wir hier die ganze Fassung wieder. In einem ersten Schritt soll Berthold Daut Versuch exemplarisch mit der Übertragung Rilkes kontrastiert werden, um die eigene Leistung im Positiven wie im Defektiven literarisch einzuschätzen, wobei der formale Hauptunterschied beider ist, dass Rilke eine gereimte Übertragung vorlegt, wohingegen Berthold Daut darauf verzichtet.
    Im Original geht bei Valéry ein griechisches Motto aus dem Schluss von  Pindars dritter pythischer Ode voraus, das  Rilke wie Daut nicht abdrucken   wohl aus typographischen Gründen. Es lautet auf Deutsch: „Liebe  Seele, trachte nicht nach dem unsterblichen Leben, sondern schöpfe das das Machbare aus.“
   Ehe wir die zweisprachige Fassung Valéry/Daut unkommentiert wiedergeben, hier die erste Strophe der drei Autoren in kontrastiver Betrachtung:

A: Paul Valéry
Le Cimétière marin
Ce toit tranquille, où marchent des colombes,
Entre les pins palpate, entre les tombes;
Midi le juste y compose de feux
La mer, la mer, toujours recommence!
O recompense après une pensée
Qu’un long regard sur le calme des dieux!

B: Rainer Maria Rilke
Der Friedhof am Meer
Dies stille Dach, auf dem sich Tauben finden,
scheint Grab und Pinie schwingend zu verbinden.
Gerechter Mittag überflammt es nun.
Das Meer, das Meer, ein immer neues Schenken!
O, die Belohnung, nach dem langen Denken
ein langes Hinschaun auf der Götter Ruhn!

C: Berthold Daut
Friedhof am Meer
Ein stummes Dach, mit Tauben, die stolzieren,
von Pinien hin zu Grüften ausgespannt;
Der stete Süden schafft aus Glut das Meer,
ein Meer, das immer wieder neu entsteht!
Es ist der Lohn für der Gedanken Strenge,
es schenkt den Augen Trost und Götterstille!

   In welcher Situation befindet sich der Betrachter, dessen Blick vom Friedhof zum dahinter liegenden Meer gleitet? Es ist Mittag mit der Sonne im Zenith, so dass Licht und Hitze den an sich klaren Blick irritieren und das Wahrgenommene verzerren im Sinne einer Dynamisierung.
   Dabei ist der Schlüsselbegriff „palpite“ des zweiten Verses. „Palpiter“ drückt eine leichte Bewegung aus, ein Zittern oder Zucken, hier auf das Dach in Vers eins bezogen. Rilke gibt es mit einer Doppelung wieder: „schwingend“ zugleich in Bezug auf die architektonische Form und „scheint“, was der Unsicherheit der Vision entsprechen soll, aber als französisch „semble“ nicht im Text steht. Und hier muss man sagen, dass es expressis verbis  gerade kein “scheinen“ ist, sondern eine Bewegung als solche. Berthold Daut sieht nur den architektonischen Zusammenhang „ausgespannt“, nicht aber die Verwandlung des Steins in Bewegung, die ihre Entsprechung im Gang der Tauben hat, d.h. der im antiken Sinne „panische“ Augenblick bleibt aus. In dritten Vers ist das Attribut „juste“ zu „Midi“ problematisch. Es heißt zunächst „gerecht“, wie Rilke richtig sieht . Gemeint ist, dass ein personifizierter Moment („midi“ als „Mittag“, nicht allgemein „Süden“) den Tag gerecht in zwei gleiche Teile teilt und jetzt ein Feuerwerk von Licht auf das bewegte Meer ausschüttet. Beide Übersetzungen von Vers drei sind treffend. Rilke beendet jedoch den Vers mit einem Punkt und trennt  das Objekt Meer ab, das im „es“ undeutlich antizipiert ist. Die exstatische Doppelung von Meer mit „recommencée“ als höchste Steigerungstufe eines Hyperbatons gerät durch Dauts Enjambement und den Artikelwechsel ins Stottern. „Recommencée“ ist ein Partizip passiv und geht in beiden Übersetzungen unter. Rilke folgt dem Reimzwang von „Denken“ (Vers 5) und erfindet dafür„Schenken“, Daut sieht es aktiv aus sich selbst heraus.
   Die beiden letzten Verse führen mit einem zweiten Aufschwung „O récompense“ zurück zum Betrachter, der diese erhebende Vision als Belohnung für sein nüchternes Denken auffasst im Blick auf eine normale „calme des dieux“. Rilke verdoppelt entgegen dem Text  die Länge von Denken und Schaun. Daut , vielleicht verleitet von Rilkes „Schenken“ lässt „lang“ aus und „schenkt“ den Augen Trost in Doppelung zu „Lohn“ (Vers 5).
   Erst der Übersetzungvergleich erschließt das Original, dem die beiden Dichter sich unter zwei bzw. drei Einschränkungen annähern: man hat den zehnsilbigen Vers nicht zu überdehnen, was bei beiden um eine Silbe ungenau werden kann, und Rilke unterwirft sich einem Reimzwang, der eher vom Original wegführen und den Gedankengang verkompliziert. Erst der Vergleich aller vierundzwanzig Strophen der beiden Übersetzer könnte eine abschließende Bewertung vornehmen lassen. Das ist hier nicht zu leisten. Dennoch ist der neue Übersetzungsversuch Berthold Dauts es wert, der Öffentlichkeit zur Lektüre und Begutachtung vorgestellt zu werden. In der losen Broschüre von 2002 steht sinnvollerweise die Übertragung dem Original gegenüber, so dass im Hin und Her man tiefer eindringen kann in Valérys poetisches Universum, das Rilkes schöne Reimfassung einer direkten Kontrolle entzieht. Da capo.
Berthold Daut (1996/2002)
Friedhof am Meer
Ein stilles Dach, mit Tauben, die stolzieren,
von Pinien hin zu Grüften ausgespannt;
Der stete Süden schafft aus Glut das Meer,
ein Meer, das immer wieder neu entsteht!
Es ist der Lohn für der Gedanken Strenge,
es schenkt den Augen Trost und Götterstille!

Die edlen Steine seiner feinsten Schäume
Von bester Arbeit, doch verzehrt von Blitzen,
bestärken friedlich sich in ihrer Kraft! W
Wie auf dem Abgrund Sonne nun verweilt,
bestellt für reine Werke ewigen Grunds,
da schimmert nur die ZEIT, zu Wissen wird der TRAUM.

Du festes Schatzhaus, Rüstung der Minerva,
Füllhorn der Ruh, du Herkunft aller Schau,
erhabner Strom und Auge, das bewacht
so viel an Schlaf in Flammenschleiern,
Du hohe Stille… Du Palast der Seele,
mit tausend goldnen Platten auf dem Dach!

Des Stundenmaßes Ort und auch der Klage,
der reine Anstieg wird mir nun vertraut,
umgeben ganz vom Anblick meines Meeres;
Und wie für Götter meine höchste Spende:
ein heitrer Funkenschwarm hinausgestreut
mit königlicher, unbegrenzter Geste.

So wie die Frucht sich auflöst im Genusse
Und ganz zu Wonne wird die Hingeschwundne
In einem Mund, der ihre Haut zerbiss,
so schmeck ich heut von dem was kommt,
der Himmel lobt mir den Verzehr der Seele
und stärkt mit Lärm den Tausch der Uferseite.

Gerechter Himmel, billige meinen Tausch!
Das falsche Glänzen, leerer Müßiggang
Sind hinter mir und waren doch voll Zwang,
und nun verlier ich mich in dieses Licht,
über der Toten Kammern fährt mein Schatten
in zögernder Bewegung die mich bannt.

Ertrag ich dich, du gnadenloses Leuchten,
mit allen Waffen sitzt du zu Gericht,
beim höchsten Stand der Sonne liegt die Seele bloß.
Ich habe dich gebracht auf deinen Thron:
Nun sieh dich an!... Doch stelle deinem Leuchten
Die düstre Hälfte Schatten ganz hinzu.

Für mich, bei mir, ganz bei mir selbst,
dem Herzschlag nah, der Quelle allen Dichtens,
zwischen der Leere und dem reinen Ende,
ersehn ich Echos meiner innren Größe,
O bittrer Schatten, tönende Zisterne,
ein Seelenhall, ein Ton des hohlen Horns!

Kennst du, verlogne Geisel dieses Laubs,
du Golf, der dünne Gitter nun verschlingt,
– Geheimnis glänzend auf geschlossnen Augen –
 den Leib, der mich zum trägen Ende zieht,
die Stirne, die ihn den Gebeinen weiht?
Ein Funke nur blitzt auf für die Gestorbnen.

Geschlossen, heilig, Flamme ohne Stoff,
dem Lichte angebotner Erdenrest,
der Platz, beherrscht von Fackeln, spricht mich an,
gemacht aus Gold, aus Stein und düstren Bäumen;
Wo soviel Marmor auf die Schatten drückt;
Dort schläft das heitre Meer auf meinen Gräbern!

Beende nun das Spiel, du prächtge Hündin!
Als Eremit, der lächelt wie ein Hirte,
bewach ich meine sonderbaren Schafe,
die weiße Herde der verschwiegnen Gräber,
den stolzen Tauben bin ich schon entfremdet,
den eitlen Träumen und den seltnen Engeln!

Hierher gelangt, ist alles Spätre aus.
Der echte Käfer schabt das Trocken-Dürre;
Alles versengt, defekt, vermählt der Luft
Wer weiß, mit strengeren Essenzen…
So wüst das Leben, ja, von Wegfall trunken,
O sanfter Gram, o reiner Geist.

Die ungern Toten habens gut im Boden,
der sie erwärmt und ihr Geheimnis hält.
O Firmament des Südens, du bist reglos,
denkst ganz an dich, kommst mit dir selber aus…
Erfülltes Haupt und Strahlenkrone sonder Makel,
ich wandle mich in dir, geheim und schweigend.


Da nimm mich nun in meiner ganzen Furcht!
Denn Reue, Zweifel, zwangbestimmtes Denken
Sind Makel an dem großen Hauptjuwel…
Doch in der Nacht und langen Last des Marmors
Bekennt ein schweigend Volk sich zu dir,
das wurzelnah und kriechend sich vermehrt.

Gelöste sind sie, nicht mehr hier, doch dicht,
das Rote hat das Weiße aufgetrunken,
der Lebensgeist stieg in den Blumen auf!
Wohin sind ihre trauten Redewechsel,
der ihnen eigne Stil, die einzige Seele?
Die Larve webt, wo vorher Tränen brachen.

Der spitze Aufschrei von sensiblen Töchtern,
sehr weiße Zähne, feuchte Augenlider,
charmante Art, die gern mit Feuer spielt,
durchscheinend Blut der hingegebnen Lippen,
die letzten Sträuße, Finder, die sich sträuben,
das alles wird beendigt, mischt sich frei!

Und du, vornehme Seele, wünschst du einen Traum,
der nie mehr eingefärbt wird von der Lüge,
die Leibes Aug mit Gold und Woge täuscht?
Versuch zu singen, wenn zu Dunst du wirst!
Gehn wir, alles weicht! Die Haut ward dünn,
die heilig Ungeduldge gibt nun auf!

So dürftig ist der Nachruhm , falsch vergoldet,
ein leerer Tröster unterm Lorbeerkranz,
der selbst den Tod als Mutterschoß verfälscht,
ihn lügnerisch verschönt mit frommer List!
Wer kennt sie nicht und muss sie von sich weisen,
den hohlen Schädel und sein Hohngelächter!

Erhabne Väter, längst verlassne Schädel,
die das Gewicht von vielen Schaufeln drückt,
ihr seid nun Erde unter unsrem Fuß.
Der wahre Wurm, der unabweisbar ist,
er tut euch nichts, da unter euren Tafeln,
er lebt von Leben, er läßt niemals ab!

Er trägt die Namen Liebe oder Selbsthaß.
Ihr scharfer Zahn bedroht mich in der Nähe,
doch andre Namen nimmt er gerne an!
Nur zu! Er sieht mich, will mich und befällt mich,
ich bin ihm Speise, bis in meinen Schlaf
verzehrt er mich und läßt mich nicht entkommen!


O Zeno! Wilder Zeno! Eleate!
Dein Pfeil, der zitternde, hat mich durchbohrt,
er schwirrt, er fliegt, und fliegt doch nicht, zuletzt!
Sein Ton erhebt mich, doch er wird mich töten!
Und nun die Sonne… schildkrötgroß ein Schatten,
der Seele gut, Achill, mit steifen Schritten!

Halt, halt! … Steh auf! Das paßt doch nicht zusammen!
Zerbrich, mein Körper, dieses falsche Denkbild!
Trink, meine Brust, den frisch gebornen Wind!
Die Frische, die dem Meer entströmt,
beseelt mich neu… O Kraft des Salzes!
Zur Welle hin, die lebend uns entläßt!

Ja, großes Meer, an wilden Räuschen reiches,
du Pantherfell, du Chlamys, ganz durchwirkt
von abertausend hellen Sonnenhelden,
vollkommne Hydra, an sich selber trunken,
die wieder schlägt mit ihrem Funkenschweif
den großen Lärm, der schon dem Schweigen gleicht.


Der Wind kommt auf!... Ich muß das Leben wagen!
Gewaltge Luft schlägt auf und schließt mein Buch,
der Staub der Wogen bricht sich an den Klippen!
Nun fliegt davon, ihr blendend-schönen Seiten!
Ihr Wellen, brecht! Zerbrecht im Spiel des Wassers
Die Hut des Dachs, nun Beute aller Stürme!
.
   Die Erfahrung des Mittelmeeres, die lebendige Mythologie und Philosophie, der Abstieg ins Totenreich, das näher kommt, das Ausharren vor noch leeren Blättern und der von der Natur abschließend initiierte Wiederaufbruch mit dem Bekenntnis zum Leben – all das findet sich auch im thematischen Inventar der bisherigen Dichtungen Berthold Dauts, der sich nunmehr als Übersetzer der Führung durch Valéry auf dem „Cimétière marin“ anvertraut. Diese Nähe setzt ihn der Gefahr aus, die philologische Distanz zu wahren und Eigenes zu projizieren,manchmal sogar gegen die lexikalische Bedeutung der Vokabel. Seine Neufassung wird zur Nachdichtung bei der ihm der Rhythmus und die semantische Einheit der Strophe am wichtigsten sind. Das befremdet zuweilen wie am Schluss in den letzten drei Versen, die völlig überzeugen bis auf die letzte Halbzeile. Valéry schließt in Wiederaufnahme seines ersten der einhundertvierundvierzig Verse mit dem Blick auf das Dach, auf dem die Tauben liefen. Jetzt heißt es: „ …où picoraient des focs!“ „ Picorer“ ist die Nahrungsaufnahme „picken“ der Tauben. Sie werden ersetzt durch „focs“, dreieckige Focksegel vorn am Boot. Das Picken ist metaphorisch die Bewegung der fernen Boote durch den Wind, gesehen auf der Dachlinie als Bühne, so dass die Auf- und Ab-Bewegung diesem Picken vergleichbar ist. Rilke sieht das konkret: „ das Dach unter dem Klüverschwarm – zerbrichs!“ mit einem blassen Reim auf vorher „…sichs“. Valéry setzt vokalisch knapp einen deutlichen Schlussakzent mit „rocs/focs“. Das Klüversegel sitzt übrigens noch vor dem Focksegel,  ist freilich aus der Entfernung nicht zu unterscheiden. Mit „Schwarm“ assoziieren sich wieder Tauben oder Vögel. Berthold Daut scheint diese Anspielung an diesem markanten Abschluss wohl zu banal. „Beute aller Stürme“ abstrahiert  durchaus treffend und markant in nominaler Folge, mit der er die Aufforderung Valérys durch Unterlassung realisiert, die das Schlußbild wegspülen soll.       

  

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