Bertholt Daut:
Übertragung von Paul Valéry: „Le
Cimétère marin“ (1920)
Französisch und Deutsch, Wiesbaden:
Galeach Labhras 2002 o.S. .
Paul Valérys wohl bekanntestes Gedicht, eine
Meditation auf dem Friedhof in seiner Geburtsstadt Sète am Mittelmeer, ist mit
24 Strophen von jeweils sechs gereimten Versen von epischer Länge. Das
Reimschema ist aa b cc b, d.h. zunächst gepaart und dann die neue Paarung
umfassend. Das Hauptcharakteristikum ist jedoch das Versmaß des Hendekasyllabus,
d.h. eines Zehnsilblers mit Blöcken von vier und sechs Silben.
Übersetzungen dieses „Cimétière marin“ ins
Deutsche liegen von Rainer Maria Rilke (1925), Ernst Robert Curtius und
Friedhelm Kemp vor, die alle schwer zugänglich sind. Berthold Daut lag Rilkes
Übertragung vor, mit der er sich, so das Vorwort von Cordula Daut, „nie so
recht anfreunden“ konnte. „Er wollte selbst einen neuen Versuch der Übertragung
wagen, zumal es auch für ihn einen solchen Friedhof gab. Er überblickt die
Bucht von Schull in Irland.“ Das entspricht in einer existentiellen Analogie,
wie wir sahen, völlig der Dautschen poetischen Methodik der Annäherung an die
ihm innerlich und thematisch verwandten Dichter. Neu ist, dass hier nicht
Formen oder Bilder ins Eigene hineinwirken, sondern dass umgekehrt Daut in
seiner Übersetzung dem Anderen so nah wie möglich zu kommen hat in seinem
dichterischen Verständnis und vor allem seiner sprachlichen Kompetenz. Abgeschlossen
ist dieser Versuch am 14. September 1996 und kurz nach seinem Tod zu seinem
Andenken 2002 erschienen.
Um im Netz eine weitere Übertragung
zugänglich zu machen, geben wir hier die ganze Fassung wieder. In einem ersten
Schritt soll Berthold Daut Versuch exemplarisch mit der Übertragung Rilkes
kontrastiert werden, um die eigene Leistung im Positiven wie im Defektiven
literarisch einzuschätzen, wobei der formale Hauptunterschied beider ist, dass
Rilke eine gereimte Übertragung vorlegt, wohingegen Berthold Daut darauf
verzichtet.
Im
Original geht bei Valéry ein griechisches Motto aus dem Schluss von Pindars dritter pythischer Ode voraus,
das Rilke wie Daut nicht abdrucken – wohl aus
typographischen Gründen. Es lautet auf Deutsch: „Liebe Seele, trachte nicht nach dem unsterblichen
Leben, sondern schöpfe das das Machbare aus.“
Ehe wir die zweisprachige Fassung
Valéry/Daut unkommentiert wiedergeben, hier die erste Strophe der drei Autoren in
kontrastiver Betrachtung:
A: Paul Valéry
Le Cimétière marin
Ce toit tranquille,
où marchent des colombes,
Entre les pins
palpate, entre les tombes;
Midi le juste y
compose de feux
La mer, la mer,
toujours recommence!
O recompense
après une pensée
Qu’un long
regard sur le calme des dieux!
B: Rainer Maria Rilke
Der Friedhof am Meer
Dies
stille Dach, auf dem sich Tauben finden,
scheint
Grab und Pinie schwingend zu verbinden.
Gerechter
Mittag überflammt es nun.
Das
Meer, das Meer, ein immer neues Schenken!
O,
die Belohnung, nach dem langen Denken
ein
langes Hinschaun auf der Götter Ruhn!
C: Berthold Daut
Friedhof am Meer
Ein
stummes Dach, mit Tauben, die stolzieren,
von
Pinien hin zu Grüften ausgespannt;
Der
stete Süden schafft aus Glut das Meer,
ein
Meer, das immer wieder neu entsteht!
Es
ist der Lohn für der Gedanken Strenge,
es
schenkt den Augen Trost und Götterstille!
In welcher Situation befindet sich der Betrachter,
dessen Blick vom Friedhof zum dahinter liegenden Meer gleitet? Es ist Mittag
mit der Sonne im Zenith, so dass Licht und Hitze den an sich klaren Blick
irritieren und das Wahrgenommene verzerren im Sinne einer Dynamisierung.
Dabei ist der Schlüsselbegriff „palpite“ des
zweiten Verses. „Palpiter“ drückt eine leichte Bewegung aus, ein Zittern oder
Zucken, hier auf das Dach in Vers eins bezogen. Rilke gibt es mit einer
Doppelung wieder: „schwingend“ zugleich in Bezug auf die architektonische Form
und „scheint“, was der Unsicherheit der Vision entsprechen soll, aber als
französisch „semble“ nicht im Text steht. Und hier muss man sagen, dass es expressis
verbis gerade kein “scheinen“ ist,
sondern eine Bewegung als solche. Berthold Daut sieht nur den architektonischen
Zusammenhang „ausgespannt“, nicht aber die Verwandlung des Steins in Bewegung,
die ihre Entsprechung im Gang der Tauben hat, d.h. der im antiken Sinne
„panische“ Augenblick bleibt aus. In dritten Vers ist das Attribut „juste“ zu
„Midi“ problematisch. Es heißt zunächst „gerecht“, wie Rilke richtig sieht .
Gemeint ist, dass ein personifizierter Moment („midi“ als „Mittag“, nicht
allgemein „Süden“) den Tag gerecht in zwei gleiche Teile teilt und jetzt ein
Feuerwerk von Licht auf das bewegte Meer ausschüttet. Beide Übersetzungen von
Vers drei sind treffend. Rilke beendet jedoch den Vers mit einem Punkt und
trennt das Objekt Meer ab, das im „es“
undeutlich antizipiert ist. Die exstatische Doppelung von Meer mit
„recommencée“ als höchste Steigerungstufe eines Hyperbatons gerät durch Dauts
Enjambement und den Artikelwechsel ins Stottern. „Recommencée“ ist ein Partizip
passiv und geht in beiden Übersetzungen unter. Rilke folgt dem Reimzwang von
„Denken“ (Vers 5) und erfindet dafür„Schenken“, Daut sieht es aktiv aus sich
selbst heraus.
Die
beiden letzten Verse führen mit einem zweiten Aufschwung „O récompense“ zurück
zum Betrachter, der diese erhebende Vision als Belohnung für sein nüchternes
Denken auffasst im Blick auf eine normale „calme des dieux“. Rilke verdoppelt
entgegen dem Text die Länge von Denken
und Schaun. Daut , vielleicht verleitet von Rilkes „Schenken“ lässt „lang“ aus
und „schenkt“ den Augen Trost in Doppelung zu „Lohn“ (Vers 5).
Erst der Übersetzungvergleich erschließt das
Original, dem die beiden Dichter sich unter zwei bzw. drei Einschränkungen
annähern: man hat den zehnsilbigen Vers nicht zu überdehnen, was bei beiden um
eine Silbe ungenau werden kann, und Rilke unterwirft sich einem Reimzwang, der
eher vom Original wegführen und den Gedankengang verkompliziert. Erst der
Vergleich aller vierundzwanzig Strophen der beiden Übersetzer könnte eine
abschließende Bewertung vornehmen lassen. Das ist hier nicht zu leisten.
Dennoch ist der neue Übersetzungsversuch Berthold Dauts es wert, der
Öffentlichkeit zur Lektüre und Begutachtung vorgestellt zu werden. In der losen
Broschüre von 2002 steht sinnvollerweise die Übertragung dem Original
gegenüber, so dass im Hin und Her man tiefer eindringen kann in Valérys
poetisches Universum, das Rilkes schöne Reimfassung einer direkten Kontrolle
entzieht. Da capo.
Berthold Daut (1996/2002)
Friedhof am Meer
Ein
stilles Dach, mit Tauben, die stolzieren,
von
Pinien hin zu Grüften ausgespannt;
Der
stete Süden schafft aus Glut das Meer,
ein
Meer, das immer wieder neu entsteht!
Es
ist der Lohn für der Gedanken Strenge,
es
schenkt den Augen Trost und Götterstille!
Die
edlen Steine seiner feinsten Schäume
Von
bester Arbeit, doch verzehrt von Blitzen,
bestärken
friedlich sich in ihrer Kraft! W
Wie
auf dem Abgrund Sonne nun verweilt,
bestellt
für reine Werke ewigen Grunds,
da
schimmert nur die ZEIT, zu Wissen wird der TRAUM.
Du
festes Schatzhaus, Rüstung der Minerva,
Füllhorn
der Ruh, du Herkunft aller Schau,
erhabner
Strom und Auge, das bewacht
so
viel an Schlaf in Flammenschleiern,
Du
hohe Stille… Du Palast der Seele,
mit
tausend goldnen Platten auf dem Dach!
Des
Stundenmaßes Ort und auch der Klage,
der
reine Anstieg wird mir nun vertraut,
umgeben
ganz vom Anblick meines Meeres;
Und
wie für Götter meine höchste Spende:
ein
heitrer Funkenschwarm hinausgestreut
mit
königlicher, unbegrenzter Geste.
So
wie die Frucht sich auflöst im Genusse
Und
ganz zu Wonne wird die Hingeschwundne
In
einem Mund, der ihre Haut zerbiss,
so
schmeck ich heut von dem was kommt,
der
Himmel lobt mir den Verzehr der Seele
und
stärkt mit Lärm den Tausch der Uferseite.
Gerechter
Himmel, billige meinen Tausch!
Das
falsche Glänzen, leerer Müßiggang
Sind
hinter mir und waren doch voll Zwang,
und
nun verlier ich mich in dieses Licht,
über
der Toten Kammern fährt mein Schatten
in
zögernder Bewegung die mich bannt.
Ertrag
ich dich, du gnadenloses Leuchten,
mit
allen Waffen sitzt du zu Gericht,
beim
höchsten Stand der Sonne liegt die Seele bloß.
Ich
habe dich gebracht auf deinen Thron:
Nun
sieh dich an!... Doch stelle deinem Leuchten
Die
düstre Hälfte Schatten ganz hinzu.
Für
mich, bei mir, ganz bei mir selbst,
dem
Herzschlag nah, der Quelle allen Dichtens,
zwischen
der Leere und dem reinen Ende,
ersehn
ich Echos meiner innren Größe,
O
bittrer Schatten, tönende Zisterne,
ein
Seelenhall, ein Ton des hohlen Horns!
Kennst
du, verlogne Geisel dieses Laubs,
du
Golf, der dünne Gitter nun verschlingt,
–
Geheimnis glänzend auf geschlossnen Augen –
den Leib, der mich zum trägen Ende zieht,
die
Stirne, die ihn den Gebeinen weiht?
Ein
Funke nur blitzt auf für die Gestorbnen.
Geschlossen,
heilig, Flamme ohne Stoff,
dem
Lichte angebotner Erdenrest,
der
Platz, beherrscht von Fackeln, spricht mich an,
gemacht
aus Gold, aus Stein und düstren Bäumen;
Wo
soviel Marmor auf die Schatten drückt;
Dort
schläft das heitre Meer auf meinen Gräbern!
Beende
nun das Spiel, du prächtge Hündin!
Als
Eremit, der lächelt wie ein Hirte,
bewach
ich meine sonderbaren Schafe,
die
weiße Herde der verschwiegnen Gräber,
den
stolzen Tauben bin ich schon entfremdet,
den
eitlen Träumen und den seltnen Engeln!
Hierher
gelangt, ist alles Spätre aus.
Der
echte Käfer schabt das Trocken-Dürre;
Alles
versengt, defekt, vermählt der Luft
Wer
weiß, mit strengeren Essenzen…
So
wüst das Leben, ja, von Wegfall trunken,
O
sanfter Gram, o reiner Geist.
Die
ungern Toten habens gut im Boden,
der
sie erwärmt und ihr Geheimnis hält.
O
Firmament des Südens, du bist reglos,
denkst
ganz an dich, kommst mit dir selber aus…
Erfülltes
Haupt und Strahlenkrone sonder Makel,
ich
wandle mich in dir, geheim und schweigend.
Da
nimm mich nun in meiner ganzen Furcht!
Denn
Reue, Zweifel, zwangbestimmtes Denken
Sind
Makel an dem großen Hauptjuwel…
Doch
in der Nacht und langen Last des Marmors
Bekennt
ein schweigend Volk sich zu dir,
das
wurzelnah und kriechend sich vermehrt.
Gelöste
sind sie, nicht mehr hier, doch dicht,
das
Rote hat das Weiße aufgetrunken,
der
Lebensgeist stieg in den Blumen auf!
Wohin
sind ihre trauten Redewechsel,
der
ihnen eigne Stil, die einzige Seele?
Die
Larve webt, wo vorher Tränen brachen.
Der
spitze Aufschrei von sensiblen Töchtern,
sehr
weiße Zähne, feuchte Augenlider,
charmante
Art, die gern mit Feuer spielt,
durchscheinend
Blut der hingegebnen Lippen,
die
letzten Sträuße, Finder, die sich sträuben,
das
alles wird beendigt, mischt sich frei!
Und
du, vornehme Seele, wünschst du einen Traum,
der
nie mehr eingefärbt wird von der Lüge,
die
Leibes Aug mit Gold und Woge täuscht?
Versuch
zu singen, wenn zu Dunst du wirst!
Gehn
wir, alles weicht! Die Haut ward dünn,
die
heilig Ungeduldge gibt nun auf!
So
dürftig ist der Nachruhm , falsch vergoldet,
ein
leerer Tröster unterm Lorbeerkranz,
der
selbst den Tod als Mutterschoß verfälscht,
ihn
lügnerisch verschönt mit frommer List!
Wer
kennt sie nicht und muss sie von sich weisen,
den
hohlen Schädel und sein Hohngelächter!
Erhabne
Väter, längst verlassne Schädel,
die
das Gewicht von vielen Schaufeln drückt,
ihr
seid nun Erde unter unsrem Fuß.
Der
wahre Wurm, der unabweisbar ist,
er
tut euch nichts, da unter euren Tafeln,
er
lebt von Leben, er läßt niemals ab!
Er
trägt die Namen Liebe oder Selbsthaß.
Ihr
scharfer Zahn bedroht mich in der Nähe,
doch
andre Namen nimmt er gerne an!
Nur
zu! Er sieht mich, will mich und befällt mich,
ich
bin ihm Speise, bis in meinen Schlaf
verzehrt
er mich und läßt mich nicht entkommen!
O
Zeno! Wilder Zeno! Eleate!
Dein
Pfeil, der zitternde, hat mich durchbohrt,
er
schwirrt, er fliegt, und fliegt doch nicht, zuletzt!
Sein
Ton erhebt mich, doch er wird mich töten!
Und
nun die Sonne… schildkrötgroß ein Schatten,
der
Seele gut, Achill, mit steifen Schritten!
Halt,
halt! … Steh auf! Das paßt doch nicht zusammen!
Zerbrich,
mein Körper, dieses falsche Denkbild!
Trink,
meine Brust, den frisch gebornen Wind!
Die
Frische, die dem Meer entströmt,
beseelt
mich neu… O Kraft des Salzes!
Zur
Welle hin, die lebend uns entläßt!
Ja,
großes Meer, an wilden Räuschen reiches,
du
Pantherfell, du Chlamys, ganz durchwirkt
von
abertausend hellen Sonnenhelden,
vollkommne
Hydra, an sich selber trunken,
die
wieder schlägt mit ihrem Funkenschweif
den
großen Lärm, der schon dem Schweigen gleicht.
Der
Wind kommt auf!... Ich muß das Leben wagen!
Gewaltge
Luft schlägt auf und schließt mein Buch,
der
Staub der Wogen bricht sich an den Klippen!
Nun
fliegt davon, ihr blendend-schönen Seiten!
Ihr
Wellen, brecht! Zerbrecht im Spiel des Wassers
Die
Hut des Dachs, nun Beute aller Stürme!
.
Die Erfahrung des Mittelmeeres, die
lebendige Mythologie und Philosophie, der Abstieg ins Totenreich, das näher
kommt, das Ausharren vor noch leeren Blättern und der von der Natur abschließend
initiierte Wiederaufbruch mit dem Bekenntnis zum Leben – all das findet sich auch
im thematischen Inventar der bisherigen Dichtungen Berthold Dauts, der sich nunmehr
als Übersetzer der Führung durch Valéry auf dem „Cimétière marin“ anvertraut. Diese
Nähe setzt ihn der Gefahr aus, die philologische Distanz zu wahren und Eigenes
zu projizieren,manchmal sogar gegen die lexikalische Bedeutung der Vokabel. Seine
Neufassung wird zur Nachdichtung bei der ihm der Rhythmus und die semantische
Einheit der Strophe am wichtigsten sind. Das befremdet zuweilen wie am Schluss
in den letzten drei Versen, die völlig überzeugen bis auf die letzte Halbzeile.
Valéry schließt in Wiederaufnahme seines ersten der einhundertvierundvierzig
Verse mit dem Blick auf das Dach, auf dem die Tauben liefen. Jetzt heißt es: „
…où picoraient des focs!“ „ Picorer“ ist die Nahrungsaufnahme „picken“ der
Tauben. Sie werden ersetzt durch „focs“, dreieckige Focksegel vorn am Boot. Das
Picken ist metaphorisch die Bewegung der fernen Boote durch den Wind, gesehen
auf der Dachlinie als Bühne, so dass die Auf- und Ab-Bewegung diesem Picken vergleichbar
ist. Rilke sieht das konkret: „ das Dach unter dem Klüverschwarm – zerbrichs!“
mit einem blassen Reim auf vorher „…sichs“. Valéry setzt vokalisch knapp einen
deutlichen Schlussakzent mit „rocs/focs“. Das Klüversegel sitzt übrigens noch
vor dem Focksegel, ist freilich aus der Entfernung
nicht zu unterscheiden. Mit „Schwarm“ assoziieren sich wieder Tauben oder
Vögel. Berthold Daut scheint diese Anspielung an diesem markanten Abschluss wohl
zu banal. „Beute aller Stürme“ abstrahiert
durchaus treffend und markant in nominaler Folge, mit der er die
Aufforderung Valérys durch Unterlassung realisiert, die das Schlußbild
wegspülen soll.
Echt toll!
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