Sonntag, 13. März 2016

Kapitel IV: Strofen und Sprüche zur Lage 1970-1977

  In diesen zwölf Gedichten (S. 64-74) entsprechen eingangs die längeren den „ Strofen“. Die  „Sprüche“  beginnen mit „Trinkspruch“ (Nr. 5, S. 68) und verknappen sich textlich, ohne dass eine dominante Form erkennbar  wird.  Geht man im Vorverständnis von dem Begriff „Lage“ aus, meint dieser den Umstand, in dem man sich befindet, generalisiert: die politische Lage.  Nehme ich Stellung zu dieser Lage in Form eines Spruches, benenne ich sie, beschreibe sie und weise andere eventuell warnend auf deren Ernst hin. Dann würde  die urpoetische Funktion des „vates“ anklingen, des voraus sehenden, mahnenden Dichters, nunmehr eingeschränkt auf eine persönliche Situation. .
  Die uns vertraute Problematik des Dichtens angesichts mangelnder Inspiration ist hier die gegenwärtige Ausgangslage. Die „Wortmaschine“ einer „Ichkunst“ (S. 64.65) springt wegen der äußeren leblosen Winter-Natur nicht an und erzwingt innerlich höchstens ein „blödes flattern“. Dass sich darüber dennoch zweimal vier gereimte Strophen erfinden lassen, scheint das Paradox dieser Hohlheit zu sein, die immerhin wenn auch im Nachhinein über sich selber reden kann. Diese  Krise weicht nach einem einfachen Stimulus:

Nur heisser tee bewegt die wortmaschine
und bringt den ichreiz, wenn sich reime winden,
ersehnten durchgang, reisst die binden
vom auge und befreit die bildermine.

Nun muss ein wort der macht sie sprengen.
Aus allen adern fängt es an zu bluten,
aus engen kammern strömen gluten,
die rings den raum mit licht versengen.
(S.65)
  Die Lage verbessert sich in bildlich phantastischer Steigerung. Dennoch produziert diese Wortmaschine nicht neue Strofen, sondern nur tröstende intertextuelle Assoziationen. Bei Überhitzung hilft Kühlen. Das anschließende Gedicht tut dies im Namen der analogen Exstasen von Quirinus Kuhlmann  (1651-1689), dem mystisch-visionären Autor von „Kühlpsaltern“, die in Jesu Namen die Höllengluten bekämpfen sollten. Der Dichter fühlt sich ihm verwandt. Verbirgt sich hinter dieser gelehrten Anspielung auf Kuhlmann als „himmlischen Piloten“ eine Annäherung an durch Drogen stimulierte Bildlichkeit? Auch die nächsten Strofen (S. 67)  sprechen düster-hermetisch von nächtlichen Erscheinungen, mit denen sich der Dichter faustisch mittels eines Bilsentrunks, des gefährlich berauschenden „Hexenkrauts“, verbündet. Auf diese haluzigenen Passagen folgt eine Art Erwachen im „Trinkspruch“ (S. 68). Auf der Burg Eltz verhelfen dazu drei Gläser „engelslicht“, die dennoch nicht von der ambivalenten  nächtlichen Bindung befreien:

Gehetzt in einsamkeit
Ins licht bin ich gedrängt,
ins schwersteleichte bleiben!
Mir ist die nacht gelängt.
(S.68)
In dem nächsten  stakkato-artigen, noch stammelnden „Spruch“ zur Lage von „herz  leere hülle“ wird eine Objektivierung des Psychodramas gewonnen in der Gestalt einer Marionette, die sich zu drehen aufgefordert wird (S. 59). Der Neubeginn ist wie eine Auferstehung:

Mühsam
Drücke ich die steine weg
Beim aufwachen.
(S. 70)

Es bleibt oder entsteht wieder ein Gefühl der Entgrenzung, fast prosaisch mit einer überwiegend leer gebliebenen Seite:
Immer mehr
fasern die rahmen ab
in denen unsere imagination befestigt war.
Die bilder werden locker
lösen sich in farbige teile auf
und besetzen den wohnraum.
(S. 71) 
Die Rückkehr aus dieser Grenzsituation stößt auf einen Schein von Leben („Entzündung“, S. 72), auf eine „belle amie“ und endet:
..
Das sagt sich so leicht: lerne das fühlen!
Vielleicht möchte ich mich fallen lassen
wie ein stein.
Das sagt sich so leicht: lerne das leben.
(S. 74)
Die existentielle Krisenlage ist im vierten Kapitel gerade in dem Übergang von visionären, grotesken „strofen“ hin zu den „sprüchen“ in inspiratorischer Reduktion eher als Schaffens- und Orientierungskrise zu deuten, hinter der sich natürlich eine soziale oder gesundheitliche Grenzerfahrung  wie eine Depression verbergen kann, die  bei dem Ich-Dichter immer durch fließende, bildlich-rhythmische Sprachwerdung besiegt werden will.


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