Sonntag, 13. März 2016

Exkurs:

Ultra I und die Erinnerungen an Stefan George
1.    Kriterien zeitgenössischer Dichtung
   
   In seinem Vorwort zur Anthologie „Ultra I“ (1960) schreibt Berthold Daut im November 1959 über den von der Wulffenpresse angeregten Lyrikwettbewerb der Generation der Jahrhundertmitte:
Es gab keine Zeit, die den jungen Dichter so in die Abseitigkeit gedrängt hat, wie unsere Gegenwart. In einer Umwelt, die das höhere Einkommen und die Wirtschaft anbetet, hält man den Menschen, der sich um das Wort im gültigen Versgebilde bemüht, für ein romantisches Tier, das in diese Welt nicht paßt…
Von dieser Sammlung [mit siebzehn Autoren und rund sechzig Gedichten] ausgeschlossen bleiben mußten alle leichtfertigen Nachahmer, einfallsreichen Macher und die, die für die Zeichnung ihrer Empfindungen und Erlebnisse verbrauchte Schablonen benützen.
Überraschend auffallen muss die schlichte Sageweise, die vielen Gedichten eigen ist, die Scheu vor lauten Bekenntnissen und Sprachexperimenten, die Vermeidung des „Engagements“. In zurückhaltenden Farben geben junge Menschen ihre Welt [wieder] und kommen zu Versen, die in ihrer Eigenart fast japanischen Aquarellen zu vergleichen sind. Bemerkenswert [sind] die Meidung des Reims und die Knappheit der Strophe.
Die Landschaft scheint beliebtester Gegenstand des Gedichts zu sein. Das sprechende Ich verschmilzt mit den Wesenheiten der ihm gemäßen Landschaft zu untrennbarer Einheit und findet so zurück zu einer Geborgenheit in der Sprache.“ (S. 1 f.)
   Der Rezensent C.E. des Wiesbadener Tageblattes (1.3.1960) versucht, einzelne Dichter und die eine Dichterin mit künstlerischen  Kriterien zu charakterisieren wie „pointillistisch“, Liedhaftigkeit, Zeitlosigkeit, Expressionismus, kleine Formen, viele Nachtgedichte und Flucht aus dem Alltag. Einzig „der im Rheingau lebende Konrad Helis [gibt] sich als später Nachfahr Stefan Georges. Wie gläserne Gefüge sind seine Verse (kühle amfore nacht).“
   Berthold Daut hat sich demnach unter der Maske eines Konrad Helis in das von ihm dokumentierte junge poetisches Panorama eingeschlichen, dessen Kriterien-Katalog auch  -  wir haben es oben gesehen  -  auf ihn nicht zuletzt bei „kühle amfore nacht“  -  angewendet werden kann. Die Kleinschreibung allein verrät nicht den Georgianer, auch der junge Dichter Jürgen Menningen schreibt nur Minuskeln. „Gläserne Gefüge“ in durchsichtiger, erkalteter Sprachkunst gelten dem Rezensenten als Charakteristikum Stefan Georges. Es scheint, dass Berthold Daut im neuen dichterischen Spektrum diesen Akzent nicht vermissen mochte, ihn jedoch nicht mit seinem Namen verbunden wissen wollte. 
   Im Juni desselben Jahres 1960 legte Hans Magnus Enzensberger sein epochales „Museum der modernen Poesie“ bei Suhrkamp vor, in dessen Vorwort er die Tendenzen  der Dichtung der weltweiten Moderne erläutert und einräumt: „Ungern werden die einen Hugo von Hofmannsthal und Stefan George ausgeschlossen , ungern die andern  Jiménez und Jesenin aufgenommen sehen. Das ist nicht verwunderlich. Über einen Begriff, der so schadhaft ist wie der des Modernen, wird sich ein völliges Einverständnis nicht erzielen lassen; das ist kein Unglück.  … George und Valéry waren ohne Zweifel bedeutendere Geister als Schwitters und Prévert; von der Weltsprache aber, zu deren Kenntnis das Buch verhelfen will, hielten sie sich zu fern, als daß man sie unter ihre Wortführer zu zählen das Recht hätte.“[1] Was  -  zu unserer Orientierung  - charakterisiert nach Enzensberger diese Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts, die hier nicht an die des 19.Jahrhundert anschließt, die Hugo Friedrich 1956 in seiner berühmten „Die Struktur der modernen Lyrik“  bei Charles  Baudelaire beginnen ließ? [2] Und was bewegte Berthold Daut nun, das Erbe Stefan Georges für eine nicht zu unterschlagene, wenn auch getarnte Verpflichtung zu halten?
Doch betreten wir zunächst das Museum, das Enzensberger einen Ort unaufhörlicher Verwandlung nennt (S. 11). Poesie ist ein Prozess, den Destruktion und Rückgriff auf die Revolte kennzeichnen. Auch die Negation wird negiert und produziert einen neuen Sprachzustand, der sich zu einer nicht normativen Poetik konsolidiert (S. 14). Der Poet wird zum Technologen,  Poesie zur Antiware (Vgl. S.20 f.). Ansonsten muss man die Gedichte selber sprechen lassen, was thematisch geschieht in den Kapiteln: Augenblicke, Ortschaften, Meere, Gräber, Hochzeiten, Klagen, Panoptikum, Figuren, Meditationen, Zeitläufte. Das ist konzeptuel so allgemein, dass man diesen Themen mühelos überall begegnen kann, wobei sich sicherlich für den jeweiligen Autor typische Schwerpunkte finden können.

2.    Georgika
   In vielen thematischen Aspekten ist Berthold Deut in seinen Gedichten offensichtlich nicht hinter seiner Zeit zurück, wäre da nicht die unzeitgemäße Bindung an die Ästhetik Stefan Georges. Da liegen theoretische Aussagen vor, die über die formale Referenz hinausgehen.
In einem Aufsatz der späten 50ger Jahre untersucht er fast beckmesserisch den Gedichtband „Kranz des Jünglings“ von Teut Ansolt alias Karl Christian Müller, dem Gründer des Jungenbundes „Trucht“, dem er sich mit seiner Wiesbadener Gruppe eine Zeit lang angeschlossen hatte. Dieser Band von sechzig Seiten ist nicht datiert und wird von Daut auf 1920 geschätzt als das erste poetische Werk des 1900 geborenen Müller. Hätte er gewusst, dass es zehn Jahre später entstanden war, wäre er vielleicht noch strenger damit umgegangen.
Der Verfasser  -  so Daut - stelle sich in die „dichterische und weltanschauliche Nachfolge Stefan Georges“ gemäß dessen Kernlehre, dass diese Nachfolge sich nur als Jüngertum vollziehen könne,  das sich dem „Stern des Bundes“ (1914) verpflichte (1. Seite).  Es wird daraufhin untersucht, wie sich diese Nachfolge  in Müllers Gedichten realisiert. Dabei interessieren weniger die Themen und Bekenntnisse, sondern die dichterische Gestaltung bis hin zur Metrik und Wortwahl bzw. –bildung. Das Fazit ist vor allem ex negativo in Bezug auf Berthold Daut selber sehr aufschlussreich: „In diesen einteiligen Gedichten scheint Teut die Form gefunden zu haben, die ihm gemäß ist. Aber auch diese Gedichte haben etwas nördlich-knorriges, etwas hartes, mehr germanisch als Georgenachfolge , denn Georges Sprachform ist römisch streng, aber schlicht. Ja sogar oft von romanischer Sangbarkeit. Auch die Wahl mythischer Stoffe bei Teut deutet auf die tief empfundene nördliche Verwandtschaft. Hier spricht ein Ase, nicht aber Apollon, hier schreitet ein schwerfälliger Riese, aber kein Tänzer.“ (o.S.).
Das ist sehr feinsinnig geschlossen und zeigt die Gefährdung einer falsch fundierten oder begabungsmäßig nicht adäquaten Nachfolgeideologie. Müller wurde nach 1933 erfolgreicher Mitgestalter nationalsozialistischer Literatur in der Saarbrücker Westmark und während des Krieges Marinepropagandist, wovon in den 50ger Jahren nur ganz wenige wussten.[3]
   Jahre später, im Juli 1964, erinnert Berthold Daut an Stefan George in einem Beitrag des Wiesbadener Kuriers und betont Georges europäische Vernetzung: „Als Europäer im besten Sinne ging er auf Reisen, fand er in Paris Aufnahme im Kreis um Mallarmé, warb er in Wien um die Freundschaft Hofmannsthals. Sie waren die ersten in Deutschland, die dem Naturalismus eine neue Schönheit entgegenstellten und besonders Stefan  G e o r g e  war es, welcher im deutschen Idiom der poésie pure entsprach. Er habe die deutsche Tradition der Dichterschule wie den Hainbund, den Freundeskreis um Klopstock und der Romantiker mit jünglingshaftem Schwung, hoher Begeisterung und genialer Gelehrsamkeit fortgesetzt, aber man habe ihm die Exklusivität und Abgewandtheit von der Öffentlichkeit übelgenommen. Berthold Daut hebt beim Durchgang durch seine Werke besonders die frühen Dichtungen hervor mit der Flucht in den Dandyismus, Leiden und Einsamkeit. Später habe er das ganze Elend des Jahrhunderts , den Krieg, den Verrat am Geist „vorausgelebt“. Wenn man sich der Mühe einer Lektüre unterziehe, die durch die eigenwillige Rechtschreibung erschwert wird, dann gehen ungeheure Wunder deutscher Sprache vor einem auf.
 In seinem Aufsatz „So war dies alles erst der Morgengang? Stefan Georges künstlerische Orientierung im Jahr 1882 und die ‚Sprüche für die Geladenen in T.“  bekundete Berthold Daut wieder sein Interesse an Georges Frühwerk, d.h. „Pilgerfahrten“ und „Algabal“.[4]  Einleitend weist er auf einen Aspekt hin, der oft völlig außer Acht gelassen wird: das kultische Lesen im Freundeskreis, das ein inhärentes Charakteristikum seiner Gedichte selber war. Ebenso wie die Kleinschreibung eine mögliche theatralische Betonung der Substantive verhindert, war das Ideal der Georgischen Lesung eine im schlechtesten Sinne  klangarme Litanei, an die die höchsten Ansprüche gestellt wurden.
   Daut geht bis auf die Anfänge der Bemühungen Georges um Gruppenbildung zurück, als dieser durch Europa reiste auf der Suche nach jungen Gleichgesinnten und dabei in Frankreich und Belgien auf Albert Mockel, Paul Gérardy und auch bildende Künstler wie Fernand Khnopff stieß, bei denen er Wertschätzung als ein schon erfahrener und überdies zweisprachiger Künstler mit Kontakten zu Mallarmé erfuhr.
Georges Widmungsgedichte an die „Geladenen“ nennt Daut, der diese Form schon in „Stimmen und Schatten“ aufgenommen hatte, „Gedankengedichte“, die formal am Ende eines Zyklus stünden und mit einer Orientierungsgeste beginnen und in eine Schlussfrage einmünden (Vgl. S.28). Sie sind in Georges „wunderbaren wehmutsjahren“ an jene „poètes maudits“ gerichtet, zu denen er sich selber zählte (S. 31).
   Am Schluss von „Stimmen und Schatten“ vor den „Zehn Gesängen“ von 1984/85 gedenkt Berthold Daut seiner poetischen Begleitern Karl Wolfskehl, dem nach Neuseeland Exilierten, und Stefan George, dem er die eigene, die ihm selber gemäße und andauernde dichterische Spur verdankt. Es  sind wieder lokal geprägte „tombeau“-Formen, die 1990 auch in „Neue Beiträge zur George-Forschung“ ihre Gültigkeit beweisen:

Resurrexit
Ein garten. Weit. Mit himmelhohen ästen
Verschlungen wurzeln die zum grunde reichen
Mit fremden vögeln gar zu seltnen gästen
Und rosenwolke spiegelt in den teichen.

Hier sah ich  D I C H  am alten brunnen stehen
Gestützt auf einen stab und lächeln weise
Dein mantel staubig wie nach weiter reise
Dein weisses haar bewegt vom leichten wehen.

Ob lange wie versunken ich  D I C H  sah?
Ich spürete einen hauch auf stirn und hand.
Als ich ein wort sprach warst du nicht mehr da
Es blieb ein glanz wie ferner brand.
(S. 93)

Diese Vision im frühen gereimten George-Ton ist kein Atavismus in Berthold Dauts Stil. Beim ersten Wort verschwindet jene Prophetengestalt. Hier ist stilistisch zeitlich gedacht: Am Schluss der Triologie (ohne Wolfskehl) sind wir am Sterbeort Georges, in Minusio, am Eingang der Unterwelt. Doch zuvor sein Geburtsort:

Die wolken gleichen hohen türmen
An deren fuß des himmels meere stossen.
Um ihre spitzen wie von stürmen
zerfetzte graue wogen tosen.

Den windesrossen die durchs wetter dringen
Zerrn gierig krallen an den mähnen -
Rings auf die hänge bis nach Bingen
Bricht reines licht in breiten strähnen.

Und vögel fliegen auf ins blau
Sie gleiten höher auf gelösten schwingen –
So hebt sich unser geist zur schau
So schwebt er frei in erd- und himmelsdingen.
(S. 94)


Stefan George in Minusio

Auch du am stygischen strand,
ach, in dein schweigen vertieft, in die runen,
die nächtlich das meer in den sand schreibt.

Die knöchel rollen auf dem schweren tisch.
Ein becher leer, bis zur neige.
Gesicht, das keiner sehen kann.

Deine schar legt ab, sie tauchen die ruder –
Klagendes meerhorn im brausenden sund,
frühlicht der sage.
(S.97)

  Eine andere Art der Hommage an Stefan George ist 2011 von Berthold Daut s Schüler Christophe Fricker vorgelegt worden: Stefan George. Gedichte für Dich (Berlin: Matthes&Seitz).  Dieser versucht nach der Enthüllungs-Biographie  von Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma (München Blessing 2007) die für viele unzeitgemäßen Gedichte wieder selber in den Mittelpunkt der Begegnung mit George zu rücken, wie es eindrucksvoll Ernst Osterkamp in seiner „Poesie der leeren Mitte“ (München: Hanser 2010) für „Das neue Reich“ vorgeführt hatte. Fricker untersucht differenziert die Ich-Du-Beziehungen in allen Facetten von Annährung und Nähe entgegen einer Instrumentalisierung  in der aktuellen der Missbrauchs-Diskussion: „Georges Gedichte  sind weitgehend Gedichte des Verzichts“.[5]  „Das fluchwürdigste Verbrechen ist das Nicht-Sehen der Grenzen“, so George selber (ebda.).






[1] Taschenbuchausgabe DTV 1964, S.24.

[2] Hugo Friedrich beschreibt die poetische Moderne mit „Faszination der Dissonanz“ (S.15) und gewollter Dunkelheit. Alle Kriterien sind in nicht abwertender Weise negativ: Es gibt z.B. die Schönheit des Verfalls bei Baudelaire, sprachlich noch umschlossen von einer durchdachten Komposition (S. 39). Weitere allgemeine Stichworte: „Desorientierung, Auflösung des Geläufigen, eingebüßte Ordnung, Inkohärenz, Fragmentarismus, Umkehrbarkeit, Reihungsstil, entpoetisierte Poesie, Zerstörungsblitze, ..Verfremdung“ (S. 22). Zitate nach der erweiterten Neuausgabe.

[3] Vgl. Thorsten Mergen:  Ein Kampf für das Recht der Musen: Leben und Werk Karl Christian Müllers alias Teut Ansolt (1900.1975). Göttingen 2012 und zuvor meinen Blog „Aufbruch einer Druse“ unter  blogcenter.de.
[4]  Posthum 2003 gedruckt, vgl. Bibliographie. Geschrieben nach dem Ablauf der Autorenrechte und dem Abschluss der Neuausgabe bei Klett-Cotta, also  2001.
[5] Die Welt vom 3.4.2010, Literarische Welt, S. 35. Siehe jetzt auch C. Fricker: Stefan George lesen – über Stefan George schreiben. In: P. Stibane (Hg.): Hoher Meißner 2013. Jurtengespräche. Weimar, S. 72-79 mit unserem als Schlüsselgedicht zitierten „Es lacht in steigendem jahr DirI..“ s.o. S 10/11.

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