Exkurs:
Ultra
I und die Erinnerungen an Stefan George
1. Kriterien
zeitgenössischer Dichtung
In
seinem Vorwort zur Anthologie „Ultra I“ (1960) schreibt Berthold Daut im
November 1959 über den von der Wulffenpresse angeregten Lyrikwettbewerb der
Generation der Jahrhundertmitte:
Es
gab keine Zeit, die den jungen Dichter so in die Abseitigkeit gedrängt hat, wie
unsere Gegenwart. In einer Umwelt, die das höhere Einkommen und die Wirtschaft
anbetet, hält man den Menschen, der sich um das Wort im gültigen Versgebilde
bemüht, für ein romantisches Tier, das in diese Welt nicht paßt…
Von
dieser Sammlung [mit siebzehn Autoren und rund sechzig Gedichten]
ausgeschlossen bleiben mußten alle leichtfertigen Nachahmer, einfallsreichen
Macher und die, die für die Zeichnung ihrer Empfindungen und Erlebnisse
verbrauchte Schablonen benützen.
Überraschend
auffallen muss die schlichte Sageweise, die vielen Gedichten eigen ist, die
Scheu vor lauten Bekenntnissen und Sprachexperimenten, die Vermeidung des
„Engagements“. In zurückhaltenden Farben geben junge Menschen ihre Welt
[wieder] und kommen zu Versen, die in ihrer Eigenart fast japanischen
Aquarellen zu vergleichen sind. Bemerkenswert [sind] die Meidung des Reims und
die Knappheit der Strophe.
Die
Landschaft scheint beliebtester Gegenstand des Gedichts zu sein. Das sprechende
Ich verschmilzt mit den Wesenheiten der ihm gemäßen Landschaft zu untrennbarer
Einheit und findet so zurück zu einer Geborgenheit in der Sprache.“ (S. 1 f.)
Der Rezensent C.E. des Wiesbadener Tageblattes
(1.3.1960) versucht, einzelne Dichter und die eine Dichterin mit
künstlerischen Kriterien zu
charakterisieren wie „pointillistisch“, Liedhaftigkeit, Zeitlosigkeit,
Expressionismus, kleine Formen, viele Nachtgedichte und Flucht aus dem Alltag.
Einzig „der im Rheingau lebende Konrad Helis [gibt] sich als später Nachfahr
Stefan Georges. Wie gläserne Gefüge sind seine Verse (kühle amfore nacht).“
Berthold Daut hat sich demnach unter der Maske eines Konrad Helis in das
von ihm dokumentierte junge poetisches Panorama eingeschlichen, dessen
Kriterien-Katalog auch - wir haben es oben gesehen - auf
ihn nicht zuletzt bei „kühle amfore nacht“ -
angewendet werden kann. Die Kleinschreibung allein verrät nicht den
Georgianer, auch der junge Dichter Jürgen Menningen schreibt nur Minuskeln.
„Gläserne Gefüge“ in durchsichtiger, erkalteter Sprachkunst gelten dem
Rezensenten als Charakteristikum Stefan Georges. Es scheint, dass Berthold Daut
im neuen dichterischen Spektrum diesen Akzent nicht vermissen mochte, ihn
jedoch nicht mit seinem Namen verbunden wissen wollte.
Im
Juni desselben Jahres 1960 legte Hans Magnus Enzensberger sein epochales
„Museum der modernen Poesie“ bei Suhrkamp vor, in dessen Vorwort er die
Tendenzen der Dichtung der weltweiten
Moderne erläutert und einräumt: „Ungern werden die einen Hugo von Hofmannsthal
und Stefan George ausgeschlossen , ungern die andern Jiménez und Jesenin aufgenommen sehen. Das
ist nicht verwunderlich. Über einen Begriff, der so schadhaft ist wie der des
Modernen, wird sich ein völliges Einverständnis nicht erzielen lassen; das ist
kein Unglück. … George und Valéry waren
ohne Zweifel bedeutendere Geister als Schwitters und Prévert; von der
Weltsprache aber, zu deren Kenntnis das Buch verhelfen will, hielten sie sich
zu fern, als daß man sie unter ihre Wortführer zu zählen das Recht hätte.“[1]
Was - zu unserer Orientierung - charakterisiert nach Enzensberger diese
Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts, die hier nicht an die des 19.Jahrhundert
anschließt, die Hugo Friedrich 1956 in seiner berühmten „Die Struktur der
modernen Lyrik“ bei Charles Baudelaire beginnen ließ? [2]
Und was bewegte Berthold Daut nun, das Erbe Stefan Georges für eine nicht zu
unterschlagene, wenn auch getarnte Verpflichtung zu halten?
Doch
betreten wir zunächst das Museum, das Enzensberger einen Ort unaufhörlicher
Verwandlung nennt (S. 11). Poesie ist ein Prozess, den Destruktion und
Rückgriff auf die Revolte kennzeichnen. Auch die Negation wird negiert und
produziert einen neuen Sprachzustand, der sich zu einer nicht normativen Poetik
konsolidiert (S. 14). Der Poet wird zum Technologen, Poesie zur Antiware (Vgl. S.20 f.). Ansonsten
muss man die Gedichte selber sprechen lassen, was thematisch geschieht in den
Kapiteln: Augenblicke, Ortschaften, Meere, Gräber, Hochzeiten, Klagen,
Panoptikum, Figuren, Meditationen, Zeitläufte. Das ist konzeptuel so allgemein,
dass man diesen Themen mühelos überall begegnen kann, wobei sich sicherlich für
den jeweiligen Autor typische Schwerpunkte finden können.
2.
Georgika
In vielen thematischen Aspekten ist Berthold
Deut in seinen Gedichten offensichtlich nicht hinter seiner Zeit zurück, wäre
da nicht die unzeitgemäße Bindung an die Ästhetik Stefan Georges. Da liegen
theoretische Aussagen vor, die über die formale Referenz hinausgehen.
In
einem Aufsatz der späten 50ger Jahre untersucht er fast beckmesserisch den
Gedichtband „Kranz des Jünglings“ von Teut Ansolt alias Karl Christian Müller,
dem Gründer des Jungenbundes „Trucht“, dem er sich mit seiner Wiesbadener
Gruppe eine Zeit lang angeschlossen hatte. Dieser Band von sechzig Seiten ist
nicht datiert und wird von Daut auf 1920 geschätzt als das erste poetische Werk
des 1900 geborenen Müller. Hätte er gewusst, dass es zehn Jahre später
entstanden war, wäre er vielleicht noch strenger damit umgegangen.
Der
Verfasser - so Daut - stelle sich in die „dichterische und
weltanschauliche Nachfolge Stefan Georges“ gemäß dessen Kernlehre, dass diese
Nachfolge sich nur als Jüngertum vollziehen könne, das sich dem „Stern des Bundes“ (1914)
verpflichte (1. Seite). Es wird
daraufhin untersucht, wie sich diese Nachfolge
in Müllers Gedichten realisiert. Dabei interessieren weniger die Themen
und Bekenntnisse, sondern die dichterische Gestaltung bis hin zur Metrik und
Wortwahl bzw. –bildung. Das Fazit ist vor allem ex negativo in Bezug auf
Berthold Daut selber sehr aufschlussreich: „In diesen einteiligen Gedichten
scheint Teut die Form gefunden zu haben, die ihm gemäß ist. Aber auch diese
Gedichte haben etwas nördlich-knorriges, etwas hartes, mehr germanisch als
Georgenachfolge , denn Georges Sprachform ist römisch streng, aber schlicht. Ja
sogar oft von romanischer Sangbarkeit. Auch die Wahl mythischer Stoffe bei Teut
deutet auf die tief empfundene nördliche Verwandtschaft. Hier spricht ein Ase,
nicht aber Apollon, hier schreitet ein schwerfälliger Riese, aber kein Tänzer.“
(o.S.).
Das
ist sehr feinsinnig geschlossen und zeigt die Gefährdung einer falsch fundierten
oder begabungsmäßig nicht adäquaten Nachfolgeideologie. Müller wurde nach 1933
erfolgreicher Mitgestalter nationalsozialistischer Literatur in der Saarbrücker
Westmark und während des Krieges Marinepropagandist, wovon in den 50ger Jahren
nur ganz wenige wussten.[3]
Jahre später, im Juli 1964, erinnert Berthold
Daut an Stefan George in einem Beitrag des Wiesbadener Kuriers und betont Georges
europäische Vernetzung: „Als Europäer im besten Sinne ging er auf Reisen, fand
er in Paris Aufnahme im Kreis um Mallarmé, warb er in Wien um die Freundschaft
Hofmannsthals. Sie waren die ersten in Deutschland, die dem Naturalismus eine
neue Schönheit entgegenstellten und besonders Stefan G e o r g e
war es, welcher im deutschen Idiom der poésie pure entsprach. Er habe
die deutsche Tradition der Dichterschule wie den Hainbund, den Freundeskreis um
Klopstock und der Romantiker mit jünglingshaftem Schwung, hoher Begeisterung
und genialer Gelehrsamkeit fortgesetzt, aber man habe ihm die Exklusivität und
Abgewandtheit von der Öffentlichkeit übelgenommen. Berthold Daut hebt beim
Durchgang durch seine Werke besonders die frühen Dichtungen hervor mit der
Flucht in den Dandyismus, Leiden und Einsamkeit. Später habe er das ganze Elend
des Jahrhunderts , den Krieg, den Verrat am Geist „vorausgelebt“. Wenn man sich
der Mühe einer Lektüre unterziehe, die durch die eigenwillige Rechtschreibung
erschwert wird, dann gehen ungeheure Wunder deutscher Sprache vor einem auf.
In seinem Aufsatz „So war dies alles erst der
Morgengang? Stefan Georges künstlerische Orientierung im Jahr 1882 und die ‚Sprüche
für die Geladenen in T.“ bekundete
Berthold Daut wieder sein Interesse an Georges Frühwerk, d.h. „Pilgerfahrten“
und „Algabal“.[4] Einleitend weist er auf einen Aspekt hin, der
oft völlig außer Acht gelassen wird: das kultische Lesen im Freundeskreis, das
ein inhärentes Charakteristikum seiner Gedichte selber war. Ebenso wie die
Kleinschreibung eine mögliche theatralische Betonung der Substantive
verhindert, war das Ideal der Georgischen Lesung eine im schlechtesten Sinne klangarme Litanei, an die die höchsten
Ansprüche gestellt wurden.
Daut
geht bis auf die Anfänge der Bemühungen Georges um Gruppenbildung zurück, als
dieser durch Europa reiste auf der Suche nach jungen Gleichgesinnten und dabei
in Frankreich und Belgien auf Albert Mockel, Paul Gérardy und auch bildende
Künstler wie Fernand Khnopff stieß, bei denen er Wertschätzung als ein schon
erfahrener und überdies zweisprachiger Künstler mit Kontakten zu Mallarmé
erfuhr.
Georges
Widmungsgedichte an die „Geladenen“ nennt Daut, der diese Form schon in
„Stimmen und Schatten“ aufgenommen hatte, „Gedankengedichte“, die formal am
Ende eines Zyklus stünden und mit einer Orientierungsgeste beginnen und in eine
Schlussfrage einmünden (Vgl. S.28). Sie sind in Georges „wunderbaren
wehmutsjahren“ an jene „poètes maudits“ gerichtet, zu denen er sich selber
zählte (S. 31).
Am Schluss von „Stimmen und Schatten“ vor
den „Zehn Gesängen“ von 1984/85 gedenkt Berthold Daut seiner poetischen
Begleitern Karl Wolfskehl, dem nach Neuseeland Exilierten, und Stefan George,
dem er die eigene, die ihm selber gemäße und andauernde dichterische Spur
verdankt. Es sind wieder lokal geprägte
„tombeau“-Formen, die 1990 auch in „Neue Beiträge zur George-Forschung“ ihre
Gültigkeit beweisen:
Resurrexit
Ein
garten. Weit. Mit himmelhohen ästen
Verschlungen
wurzeln die zum grunde reichen
Mit
fremden vögeln gar zu seltnen gästen
Und
rosenwolke spiegelt in den teichen.
Hier
sah ich D I C H am alten brunnen stehen
Gestützt
auf einen stab und lächeln weise
Dein
mantel staubig wie nach weiter reise
Dein
weisses haar bewegt vom leichten wehen.
Ob
lange wie versunken ich D I C H sah?
Ich
spürete einen hauch auf stirn und hand.
Als
ich ein wort sprach warst du nicht mehr da
Es
blieb ein glanz wie ferner brand.
(S.
93)
Diese
Vision im frühen gereimten George-Ton ist kein Atavismus in Berthold Dauts
Stil. Beim ersten Wort verschwindet jene Prophetengestalt. Hier ist stilistisch
zeitlich gedacht: Am Schluss der Triologie (ohne Wolfskehl) sind wir am
Sterbeort Georges, in Minusio, am Eingang der Unterwelt. Doch zuvor sein Geburtsort:
Die
wolken gleichen hohen türmen
An
deren fuß des himmels meere stossen.
Um
ihre spitzen wie von stürmen
zerfetzte
graue wogen tosen.
Den
windesrossen die durchs wetter dringen
Zerrn
gierig krallen an den mähnen -
Rings
auf die hänge bis nach Bingen
Bricht
reines licht in breiten strähnen.
Und
vögel fliegen auf ins blau
Sie
gleiten höher auf gelösten schwingen –
So
hebt sich unser geist zur schau
So
schwebt er frei in erd- und himmelsdingen.
(S.
94)
Stefan George in Minusio
Auch
du am stygischen strand,
ach,
in dein schweigen vertieft, in die runen,
die
nächtlich das meer in den sand schreibt.
Die
knöchel rollen auf dem schweren tisch.
Ein
becher leer, bis zur neige.
Gesicht,
das keiner sehen kann.
Deine
schar legt ab, sie tauchen die ruder –
Klagendes
meerhorn im brausenden sund,
frühlicht
der sage.
(S.97)
Eine andere Art der Hommage an Stefan George
ist 2011 von Berthold Daut s Schüler Christophe Fricker vorgelegt worden:
Stefan George. Gedichte für Dich (Berlin: Matthes&Seitz). Dieser versucht nach der
Enthüllungs-Biographie von Thomas
Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma (München Blessing 2007) die
für viele unzeitgemäßen Gedichte wieder selber in den Mittelpunkt der Begegnung
mit George zu rücken, wie es eindrucksvoll Ernst Osterkamp in seiner „Poesie
der leeren Mitte“ (München: Hanser 2010) für „Das neue Reich“ vorgeführt hatte.
Fricker untersucht differenziert die Ich-Du-Beziehungen in allen Facetten von
Annährung und Nähe entgegen einer Instrumentalisierung in der aktuellen der Missbrauchs-Diskussion:
„Georges Gedichte sind weitgehend
Gedichte des Verzichts“.[5] „Das fluchwürdigste Verbrechen ist das
Nicht-Sehen der Grenzen“, so George selber (ebda.).
[1] Taschenbuchausgabe
DTV 1964, S.24.
[2] Hugo
Friedrich beschreibt die poetische Moderne mit „Faszination der Dissonanz“
(S.15) und gewollter Dunkelheit. Alle Kriterien sind in nicht abwertender Weise
negativ: Es gibt z.B. die Schönheit des Verfalls bei Baudelaire, sprachlich
noch umschlossen von einer durchdachten Komposition (S. 39). Weitere allgemeine
Stichworte: „Desorientierung, Auflösung des Geläufigen, eingebüßte Ordnung,
Inkohärenz, Fragmentarismus, Umkehrbarkeit, Reihungsstil, entpoetisierte
Poesie, Zerstörungsblitze, ..Verfremdung“ (S. 22). Zitate nach der erweiterten
Neuausgabe.
[3] Vgl.
Thorsten Mergen: Ein Kampf für das Recht
der Musen: Leben und Werk Karl Christian Müllers alias Teut Ansolt (1900.1975).
Göttingen 2012 und zuvor meinen Blog „Aufbruch einer Druse“ unter blogcenter.de.
[4] Posthum 2003 gedruckt, vgl. Bibliographie.
Geschrieben nach dem Ablauf der Autorenrechte und dem Abschluss der Neuausgabe
bei Klett-Cotta, also 2001.
[5] Die Welt
vom 3.4.2010, Literarische Welt, S. 35. Siehe jetzt auch C. Fricker: Stefan
George lesen – über Stefan George schreiben. In: P. Stibane (Hg.): Hoher
Meißner 2013. Jurtengespräche. Weimar, S. 72-79 mit unserem als
Schlüsselgedicht zitierten „Es lacht in steigendem jahr DirI..“ s.o. S 10/11.
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