Sonntag, 13. März 2016


Reinhard Pohl:

Berthold Daut: Stimmen und Schatten (1993)



   Diese in Halbleder gebundene und mit erlesenem Papier ausgestattete größte Sammlung ( 115 S.) der Gedichte Berthold Dauts umfasst eine Auswahl aus den Jahren 1950 bis 1985, zeitlich in sechs Kapitel mit Überschriften unterteilt, die im folgenden hier präsentiert werden sollen zusammen mit einer abschließenden Auswahl der markantesten Gedichte daraus. Im Großen und Ganzen ist diese Anthologie chronologisch angeordnet, unterliegt jedoch einem Gesamtkonzept mit einem späteren, keltisch-maritimen Einleitungsgedicht („Frage an Sindbad“), drei Prosagedichten und einer thematisch-kontrastiven Aufreihung, wobei das dritte Kapitel ebenfalls den Titel des Buches trägt, also seine Mitte ausmacht. Den Abschluss nach „Zehn Gesänge“ (Kap. VI)  bildet abgesetzt „Irischer Zeitraum“ (S. 115) aus dem Jahre 1983, so dass Anfang und Ende eine thematische Umfassung der Jahrzehnte - formal in konventioneller Orthographie - und damit zugleich auch eine poetisch-geographische Gesamtbewegung signalisieren.

Kapitel I: Jahreszeiten, Skizzen (1950):

Morgens wolkenweisse stadt (S. 19)
   Unter den Dichtern vom Ausgang des 19. Jahrhunderts gibt es wohl niemanden, der an der typographischen Anordnung seiner Gedichte sofort zu erkennen wäre außer Stefan George (1868-1933), später gewiss Apollinaire mit seinen „Calligrammes“  (1913-16), die Sprache bildlich z.B. als Springbrunnen anordnen. Kennzeichnend für Georges Verse sind - im Rückgriff auf die Brüder Grimm - deren konsequente Kleinschreibung bis auf den Zeilenbeginn, eine Interpunktion ohne Kommata, vereinfachte Konsonantenballungen („jezt“ statt „jetzt“) sowie eine eigene, von seiner Handschrift abgeleitete Drucktype, deren zeitliche Abwandlungen in der achtzehnbändigen Gesamtausgabe ab 1928 dokumentiert sind. Dort in den Anhängen bezeugen Handschriftproben die Entwicklung dieser Georgischen Minuskel. Alle anderen Einzelausgaben enthalten keine Handschriftenproben. Wer sie verwendet – man kann sie heute im Internet erwerben – bekennt sich zu einem ästhetischen Ideal der Text- und Buchgestaltung, das freilich auch immer nach inhaltlichen Bezügen befragt werden könnte. .
   Berthold Dauts Balkan-Gedicht „Morgens wolkenweisse stadt“, das hier wohl recht früh mit 1950 datiert ist, erschien in der bündischen Zeitschrift „Der Grosse Wagen“ der Jungentrucht in Heft 3, 1958 in der Georgischen Minuskel, die aus dem „Stern des Bundes“ (1914, vgl. Gesamtausgabe VIII, nach S. 114) übernommen ist. Vordergründig lassen sich dafür zwei Gründe finden: zum einen knüpft Berthold Daut an die George-Tradition der Vorkriegshefte des „Grossen Wagen“ und seines Herausgebers Karl Christian Müller an, zum anderen enthält dieses Heft poetische Text in verschiedenen Schrifttypen, direkt davor einen in handgeschriebener Unziale. Kurzum, Berthold Daut verwendet in Schriftwahl und Verstypologie eine Tradition, der er sich in fast seinem ganzen lyrischen Werk formal verbunden hält, von der Modifikation der Interpunktion und der Konsonanten abgesehen. Poesie entzieht sich der Alltagssprache und -schrift, mag sie auch hier den Alltag in einer Balkanstadt spiegeln. Es wird allgemein noch genauer zu untersuchen sein, welche bewussten inhaltlichen Anlehnungen zu verzeichnen sind und welche unabhängigen Akzente der junge bündische Dichter und belesene Germanist Berthold Daut setzt lange vor der allgemeinen George-Wiederentdeckung mit der zweibändigen Neuausgabe von 1958. Er selber äußert sich umfassender dazu in einem Zeitungsartikel von 1964 „Erinnerungen an Stefan George“ auf den wir gleich eingehen werden.
   Festzuhalten bei der Gegenüberstellung des Manuskripts mit dem Druck in „Stimmen und Schatten“ ist der individuelle Charakter des ersteren trotz der George-Anwartschaft, wo allein das Wort Allah eine Majuskel hat, und erst die Druckfassung den georgischen großen Zeilenbeginn wieder auf nimmt. Das Fremdartige der Handschrift fügt sich natürlicher in diese orientalische Balkan-Atmosphäre ein. Dauts Beschreibung zieht als Tagesablauf an den Augen vorüber mit jeweils typischem Lokalkolorit. Tages- und Jahreszeiten bleiben hinfort bevorzugte dichterische Sujets an wechselnden Orten. „Stimmen und Schatten“ tauchen nicht nur textuell als Motive auf, sondern sind lautlich wie bildlich ein Echo poetischer Orientierung, hier zunächst an Stefan George. Auch der duale Titel erinnert an dessen Prosa-Band „Tage und Taten“ mit jahreszeitlichen Texten, der mit einer Nummerierung durch römische Ziffern eröffnet wird. 
   Die körperliche Erfahrung der wechselnden Jahreszeiten sozusagen auf der Haut und im Gemüt war bei Berthold Daut eingangs bereits in den beiden ersten Prosaskizzen (I, II) thematisiert und in farbigen Spiegelfacetten einer Traum-Erinnerung à la E.T.A. Hoffmann gebrochen. Meeresthematik und Regenwelten fließen sodann ineinander in dem Lied „Regenfahrt“, das in vielen Fahrtengruppen gesungen wurde, weil es die herbstliche Stimmung als Gemeinschaftserlebnis sehr suggestiv wieder gab. Die wenigen Sommer- und Herbstimpressionen dieses Eingangsteils sind farbstark und klangreich auch dank ihrer Reime und Alliterationen.





Morgens wolkenweisse stadt
Rotes segel sich enthüllt
polternd rollt ein karrenrad.
Netz vom meere reich gefüllt

Mittags ist der wind erschlafft
Heisser dunst und düfteschwall.
Eine feige platzt vom saft
Prahlen fürchte rot und prall.

Der basar im sonnenbrand.
Rings gesichter braun und fremd.
Nach dem bakschisch greift die hand
Eines kinds im fetzenhemd.

Abends ruft vom Minaret
des Muezzins wehend Lied
Allahs diener zum gebet.
Schatten wachsen wo er kniet.
(S. 19)

Regenfahrt
An fernen horizonten
blüht noch ein blaues licht.
Wir sind ihm nachgezogen
mit träumendem gesicht.

In regengrauen fluten
starb mohn und mut und welt.
Wir kauern um die gluten
gesang durchweht das zelt.

Wir fahren mit den netzen
Hinaus ins regenmeer.
Wir fischen schwarze träume:

sternalt gezeitenschwer.

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