Sonntag, 13. März 2016

Elf Gedichtblätter (Wiesbaden 1988)
   
Als Loseblattdrucke auf Bütten in einer geschmackvollen Buchmappe gibt Berthold Daut fünf Jahre vor dem  Erscheinen von „Stimmen und Schatten“ eine nur nummerisch betitelte Sequenz von jeweils signierten Einzelgedichten im hauseigenen Verlag Galeach Labhras heraus. Hier zunächst ein Überblick (die Ziffern sind von uns hinzugefügt):  
I: Wiesbaden 1944
II: Hans Joachim v. Goetze zum Gedenken
III: Stern, deine wilden Wasser sind durch meinen Mund geströmt
IV: Winde, Dröhner, Trommelhäutige, kommt nah, kommt nah
V: Wieder das Laub auf den Steinen. Flecken zerdrückter Beeren
VI: Wieviel bleibt uns noch, dir, Erde, zu sagen: Wir sind?
VII: Leonce
VIII: Vom Schatten her ganz.
IX: Am Tag, als ich las, daß René Char gestorben ist
X: Fahrten, gefärbte Aufbrüche, Liste verheißender Namen
XI: Irischer Zeitraum
  
   Diese kleine Sammlung wurde parallel zu den Arbeiten an „Stimmen und Schatten“ zusammen gestellt. Man trifft auf schon Bekanntes von vor 1985. Die Auswahl  geht zeitlich darüber hinaus und überlässt die Etappen bündischer Fahrten und Freundschaften dem umfassenderen folgenden Band. Erstmalig ediert sind nur vier Texte: die ersten beiden sehr biographischen Wiesbadener Gedichte (I: Bombentod des Freundes Hans-Georg und eine Hommage an den verstorbenen, letzten wahren Antiquar von Goetze, II)  sowie IX, ein Nekrolog auf den Tod des Surrealisten René Char im Februar 1988 und schließlich X, eine poetische Paris-Reminiszenz mit Villon auf dem Weg in den gelobten keltischen Westen. Als kürzere Formen repräsentieren „Leonce“ und „Vom Schatten her“  die Grenzerfahrung von Einsamkeit, Tod und Verstummen. Diese bleiben nach wie vor Dauts zentrale Themen in progressiv unterschiedlicher Bewertung durch die Kontexte. Aus dem großen hermetischen Zyklus der „Zehn Gesänge“, die „Stimmen und Schatten“ beschließen, sind die helleren Landschaftsfarben der Tagseite mit dem Aufbruch ausgewählt. Die ganze nyktomophe persönliche Mythomanie ist ausgespart. Der „Irische Zeitraum“ schließt schon hier an diese Zehnerreihe an.
   Der neunte Text ist von zentraler Bedeutung. Er ist ein Referenzgedicht an den großen Franzosen René Char, – im dichterischen Ansatz dem Nekrolog auf Paul Celan in „Stimmen und Schatten“ ähnlich – und mehr. Auch hier erinnert Berthold Daut in formal gekonnter, nicht zitierender Annäherung an den Duktus des Verstorbenen, wobei man die eigene Akzentuierung wie ein Echo des ihm gut bekannten Surrealisten heraus zu hören hat.
   Der Text besteht aus acht nummerierten, kurzen poetisch-poetologischen Prosatexten im Stile von Chars frühen „Feuillets d’Hypnos“ (1943-1944, Texte Nr.1-237).
   Dem Grundprinzip der „image“ in der surrealistischen “écriture (automatique)” gemäß der Manifeste André Bretons ab 1926 oder der Schriften und Collagen von Max Ernst fühlt sich in zweiter Generation René Char nur bedingt verbunden, d.h. der zufälligen, unmotivierten Annäherung zweier entfernter Realitäten, deren überraschende Kombination die „beauté“ wie einen poetischen Funken aufleuchten lassen soll:
„La source est roc et la langue est tranchée” (“Feuillets d’Hypnos” No. 57, S. 189)[1]

  Je zwei Begriffspaare sind aufeinander bezogen und überdies beide Paarungen syntaktisch gleich gesetzt. Wie kann die Quelle zugleich Fels sein – und nicht wie normalerweise umgekehrt! – und die Zunge/Sprache abgeschnitten? Will man diese Zusammensetzungen logisch auflösen, kommt man an Grenzen. Die Gegensätze sind vereint und entsprechen nicht mehr der vordergründigen Realität. Hier scheint in der Tat die fließende, erklärende Sprache („langue“) abgeschnitten oder anderen analogen, verdeckten  Strukturen zu gehorchen, denn in dem Wort „source“ steckt „roc“. Die Fantasie entgrenzt und generiert Worte, die Dinge sein wollen. Man nennt dieses ableitende Verfahren „métaphore dérivée“, die von links nach rechts auf der Ebene der Zeichen begrifflich entfaltet wird oft entgegen einer syntaktischen Logik. Dabei kommt dem Anfangswort ein großes Gewicht zu. Soweit zur surrealistischen Poetik bei Char.2
   Wie spricht Berthold Daut inhaltlich und formal den verstorbenen Dichter  an? Er sucht Verwandtes in der poetischen Konzeption, die sich auch bei ihm von einer intensiven provenzalischen Naturerfahrung ableitet.  Während Char eine offene Reihe poetischer Prosastücke (1-237) thematisch oft wiederholend  fortschreibt, schließt Daut seine acht Stücke zu einer Einheit zusammen:

Am Tag, als ich las, daß René Char gestorben ist.
1
Schale, die hinstrich an den festen Geweben, die reißend
war an den Rändern, Schale und Windlicht.
2
Bei den Wurzeln vereint sich das Rot des Tages, eine gewanderte
Harmonie von Zeichen, geschart in den Aufbruch.
3
Du hast das Sichere entlassen, ein Mund voll Schweigen
quoll über von Worten.
4
Es dehnt sich der andere Raum, die Klette am Schuh ist sein
erster Bote, ich kratze seine Topographie in den feuchten
Sand der unbetreten Ufer.
5
Vorbei, vorbei, eure sinnverseuchte Ausflucht, diese raten-
schwangere Realitätsspindel, eingegossen in stählernes Glas!
6
Sternäugig, gehüllt in Blütenschlingen, Vogel im Käfig aus Luft,
so ist deine Niederkunft, aus der Leere gezeugt, aus der hohlen
Heftigkeit einer heißgelaufenen Nabe.
7
Noch zittern die Hände in der Ekstase des Weckrufs, Membranen
wie seidiges Licht federten dich zurück in die ungeschützte
Anmut der geloderten Zeilen, Verben eines Verrats.
8
Steinwolke, dröhnende Gebieterin der Bergschlucht, erzschwere
Reiche beschläfst du, ehe die Springwurzel schnellt.
  
   Im Stück 5 lässt Berthold Daut den Verstorbenen sich von dem empirischen Realitätsprinzip verabschieden, dieser „ratenschwangere (n) Realitätsspindel“ eines zu entrollenden Nacheinander, „sinnverseucht“, von Mutmaßungen geprägt („ratenschwanger“), tot und sichtbar konserviert. Chars Distanzierung davon impliziert antithetisch das Gegenteil: eine Entrealisierung durch Sprache, eine Öffnung in andere, unbetretene, unbekannte Räume (4). Dies Unterfangen meint das Symbol der Schale in 1, die zugleich als bedrohtes Windlicht dagegen hielt. Ist René Char mit dem Tod in eine umfassendere, harmonische  Dimension aufgebrochen (2)? Die dichterische Existenz (3) wagte sich ins Unsichere, nahe dem Verstummen, der gemeinsamen Grenzerfahrung, aus der Char seine Bildsprache schöpfte, seine Sprache fließen ließ.
   Die einzelnen Stücke des Gedichtes interpretierend miteinander zu verknüpfen widerspricht hier der gemeinsamen Konzeption einer erweiterten Realität. Berthold Daut überschreitet die lineare Folgerichtigkeit, verliert aber nicht aus den Augen, dass das Hinscheiden Chars sein Hauptthema ist und diskursiv eine Fülle von Gegensätzlichkeiten erzeugt: Schweigen, das von Worten überquillt (3), „Vogel im Käfig aus Luft“ (6) und fast unverständlich, weil durch die Alliteration motiviert „hohle Heftigkeit“ (6). Dies steigert sich in 7: „noch zittern die Hände in der Exstase des Weckrufs“ – ist hier Chars poetische Grenzsituation („exstase“) gemeint? Der formale Vergleich „Membranen wie seidiges Licht“ entzieht sich der Vorstellung ebenso wie der Rückfall in „ungeschützte Anmut der geloderten Zeilen“, die ein verbalisierter Verrat an der Vision des Dichters zu sein scheinen. Stück 8 („Steinwolke…“) lässt anfangs eine Vorstellung einer Grabplatte pulverisieren und weckt Hoffnung auf ein Ende des Todesschlafs mit dem Symbol der Springwurzel, die dort emporschnellen wird und an 2 verweist, an die Wurzeln und das Rot des Tages.
   Diese Bildlichkeit einer imaginativen Wahlverwandtschaft hat noch zusätzlich eine Komponente, die sich aus der Zuwendung Berthold Dauts zur Achemie ableiten lässt. „Schale“, „Springwurz“ und Neuerstehung aus der Materie sind auch alchemisch als Teilprodukte eines sich veredelnden Erneuerungprozesses
deutbar und vielleicht hier so zu verstehen. Damit begegnen sich Char und Daut in der Poetik Rimbauds in „Alchimie du verbe“, dessen Fazit sie fortgeschrieben haben:
„J’écrivais des silences, des nuits, je notais l’inexprimable. Je fixais des vertiges.“
„Ich schrieb Schweigen, Nächte, ich notierte das Unausdrückbare. Ich fixierte
Schwindelzustände“.3

1 Vgl. René Char: Oeuvres complètes. Paris: Gallimard 1983, S. 172-233.
 2 Vgl. allg. J. Chenieux-Gendron: Les surréalisme. Paris: PUF 1984, les. S. 86 ff.
 3 Arthur Rimbaud: Oeuvres. Paris: Garnier 1960, "Une saison en enfer. Délires II, S.  228.










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