Elf Gedichtblätter (Wiesbaden 1988)
Als Loseblattdrucke auf Bütten in einer geschmackvollen
Buchmappe gibt Berthold Daut fünf Jahre vor dem Erscheinen von „Stimmen und Schatten“ eine nur
nummerisch betitelte Sequenz von jeweils signierten Einzelgedichten im
hauseigenen Verlag Galeach Labhras heraus. Hier zunächst ein Überblick (die
Ziffern sind von uns hinzugefügt):
I:
Wiesbaden 1944
II:
Hans Joachim v. Goetze zum Gedenken
III:
Stern, deine wilden Wasser sind durch meinen Mund geströmt
IV:
Winde, Dröhner, Trommelhäutige, kommt nah, kommt nah
V:
Wieder das Laub auf den Steinen. Flecken zerdrückter Beeren
VI:
Wieviel bleibt uns noch, dir, Erde, zu sagen: Wir sind?
VII:
Leonce
VIII:
Vom Schatten her ganz.
IX:
Am Tag, als ich las, daß René Char gestorben ist
X:
Fahrten, gefärbte Aufbrüche, Liste verheißender Namen
XI:
Irischer Zeitraum
Diese kleine Sammlung wurde parallel zu den
Arbeiten an „Stimmen und Schatten“ zusammen gestellt. Man trifft auf schon Bekanntes
von vor 1985. Die Auswahl geht zeitlich darüber
hinaus und überlässt die Etappen bündischer Fahrten und Freundschaften dem
umfassenderen folgenden Band. Erstmalig ediert sind nur vier Texte: die ersten
beiden sehr biographischen Wiesbadener Gedichte (I: Bombentod des Freundes Hans-Georg
und eine Hommage an den verstorbenen, letzten wahren Antiquar von Goetze, II) sowie IX, ein Nekrolog auf den Tod des
Surrealisten René Char im Februar 1988 und schließlich X, eine poetische Paris-Reminiszenz
mit Villon auf dem Weg in den gelobten keltischen Westen. Als kürzere Formen repräsentieren
„Leonce“ und „Vom Schatten her“ die
Grenzerfahrung von Einsamkeit, Tod und Verstummen. Diese bleiben nach wie vor
Dauts zentrale Themen in progressiv unterschiedlicher Bewertung durch die
Kontexte. Aus dem großen hermetischen Zyklus der „Zehn Gesänge“, die „Stimmen
und Schatten“ beschließen, sind die helleren Landschaftsfarben der Tagseite mit
dem Aufbruch ausgewählt. Die ganze nyktomophe persönliche Mythomanie ist ausgespart.
Der „Irische Zeitraum“ schließt schon hier an diese Zehnerreihe an.
Der neunte Text ist von zentraler Bedeutung.
Er ist ein Referenzgedicht an den großen Franzosen René Char, – im
dichterischen Ansatz dem Nekrolog auf Paul Celan in „Stimmen und Schatten“
ähnlich – und mehr. Auch hier erinnert Berthold Daut in formal gekonnter, nicht
zitierender Annäherung an den Duktus des Verstorbenen, wobei man die eigene
Akzentuierung wie ein Echo des ihm gut bekannten Surrealisten heraus zu hören
hat.
Der
Text besteht aus acht nummerierten, kurzen poetisch-poetologischen Prosatexten
im Stile von Chars frühen „Feuillets d’Hypnos“ (1943-1944, Texte Nr.1-237).
Dem
Grundprinzip der „image“ in der surrealistischen “écriture (automatique)” gemäß
der Manifeste André Bretons ab 1926 oder der Schriften und Collagen von Max
Ernst fühlt sich in zweiter Generation René Char nur bedingt verbunden, d.h.
der zufälligen, unmotivierten Annäherung zweier entfernter Realitäten, deren
überraschende Kombination die „beauté“ wie einen poetischen Funken aufleuchten
lassen soll:
„La source est
roc et la langue est tranchée” (“Feuillets d’Hypnos” No. 57, S. 189)[1]
Je
zwei Begriffspaare sind aufeinander bezogen und überdies beide Paarungen syntaktisch
gleich gesetzt. Wie kann die Quelle zugleich Fels sein – und nicht wie
normalerweise umgekehrt! – und die Zunge/Sprache abgeschnitten? Will man diese
Zusammensetzungen logisch auflösen, kommt man an Grenzen. Die Gegensätze sind
vereint und entsprechen nicht mehr der vordergründigen Realität. Hier scheint in
der Tat die fließende, erklärende Sprache („langue“) abgeschnitten oder anderen
analogen, verdeckten Strukturen zu
gehorchen, denn in dem Wort „source“ steckt „roc“. Die Fantasie entgrenzt und
generiert Worte,
die Dinge sein wollen. Man nennt dieses ableitende Verfahren „métaphore
dérivée“, die von links nach rechts auf der Ebene der Zeichen begrifflich
entfaltet wird oft entgegen einer syntaktischen Logik. Dabei kommt dem
Anfangswort ein großes Gewicht zu. Soweit zur surrealistischen Poetik bei Char.2
Wie spricht Berthold Daut inhaltlich und
formal den verstorbenen Dichter an? Er
sucht Verwandtes in der poetischen Konzeption, die sich auch bei ihm von einer
intensiven provenzalischen Naturerfahrung ableitet. Während Char eine offene Reihe poetischer
Prosastücke (1-237) thematisch oft wiederholend
fortschreibt, schließt Daut seine acht Stücke zu einer Einheit zusammen:
Am Tag, als ich las, daß René Char
gestorben ist.
1
Schale,
die hinstrich an den festen Geweben, die reißend
war
an den Rändern, Schale und Windlicht.
2
Bei
den Wurzeln vereint sich das Rot des Tages, eine gewanderte
Harmonie
von Zeichen, geschart in den Aufbruch.
3
Du
hast das Sichere entlassen, ein Mund voll Schweigen
quoll
über von Worten.
4
Es
dehnt sich der andere Raum, die Klette am Schuh ist sein
erster
Bote, ich kratze seine Topographie in den feuchten
Sand
der unbetreten Ufer.
5
Vorbei,
vorbei, eure sinnverseuchte Ausflucht, diese raten-
schwangere
Realitätsspindel, eingegossen in stählernes Glas!
6
Sternäugig,
gehüllt in Blütenschlingen, Vogel im Käfig aus Luft,
so
ist deine Niederkunft, aus der Leere gezeugt, aus der hohlen
Heftigkeit
einer heißgelaufenen Nabe.
7
Noch
zittern die Hände in der Ekstase des Weckrufs, Membranen
wie
seidiges Licht federten dich zurück in die ungeschützte
Anmut
der geloderten Zeilen, Verben eines Verrats.
8
Steinwolke,
dröhnende Gebieterin der Bergschlucht, erzschwere
Reiche
beschläfst du, ehe die Springwurzel schnellt.
Im Stück 5 lässt Berthold Daut den
Verstorbenen sich von dem empirischen Realitätsprinzip verabschieden, dieser
„ratenschwangere (n) Realitätsspindel“ eines zu entrollenden Nacheinander,
„sinnverseucht“, von Mutmaßungen geprägt („ratenschwanger“), tot und sichtbar
konserviert. Chars Distanzierung davon impliziert antithetisch das Gegenteil:
eine Entrealisierung durch Sprache, eine Öffnung in andere, unbetretene,
unbekannte Räume (4). Dies Unterfangen meint das Symbol der Schale in 1, die
zugleich als bedrohtes Windlicht dagegen hielt. Ist René Char mit dem Tod in eine
umfassendere, harmonische Dimension
aufgebrochen (2)? Die dichterische Existenz (3) wagte sich ins Unsichere, nahe
dem Verstummen, der gemeinsamen Grenzerfahrung, aus der Char seine Bildsprache
schöpfte, seine Sprache fließen ließ.
Die einzelnen Stücke des Gedichtes
interpretierend miteinander zu verknüpfen widerspricht hier der gemeinsamen
Konzeption einer erweiterten Realität. Berthold Daut überschreitet die lineare
Folgerichtigkeit, verliert aber nicht aus den Augen, dass das Hinscheiden Chars
sein Hauptthema ist und diskursiv eine Fülle von Gegensätzlichkeiten erzeugt:
Schweigen, das von Worten überquillt (3), „Vogel im Käfig aus Luft“ (6) und
fast unverständlich, weil durch die Alliteration motiviert „hohle Heftigkeit“
(6). Dies steigert sich in 7: „noch zittern die Hände in der Exstase des
Weckrufs“ – ist hier Chars poetische Grenzsituation („exstase“) gemeint? Der formale
Vergleich „Membranen wie seidiges Licht“ entzieht sich der Vorstellung ebenso
wie der Rückfall in „ungeschützte Anmut der geloderten Zeilen“, die ein verbalisierter
Verrat an der Vision des Dichters zu sein scheinen. Stück 8 („Steinwolke…“)
lässt anfangs eine Vorstellung einer Grabplatte pulverisieren und weckt
Hoffnung auf ein Ende des Todesschlafs mit dem Symbol der Springwurzel, die
dort emporschnellen wird und an 2 verweist, an die Wurzeln und das Rot des
Tages.
Diese Bildlichkeit einer imaginativen
Wahlverwandtschaft hat noch zusätzlich eine Komponente, die sich aus der
Zuwendung Berthold Dauts zur Achemie ableiten lässt. „Schale“, „Springwurz“ und
Neuerstehung aus der Materie sind auch alchemisch als Teilprodukte eines sich
veredelnden Erneuerungprozesses
deutbar
und vielleicht hier so zu verstehen. Damit begegnen sich Char und Daut in der
Poetik Rimbauds in „Alchimie du verbe“, dessen Fazit sie fortgeschrieben haben:
„J’écrivais
des silences, des nuits, je notais l’inexprimable. Je fixais des vertiges.“
„Ich
schrieb Schweigen, Nächte, ich notierte das Unausdrückbare. Ich fixierte
Schwindelzustände“.3
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