Sonntag, 13. März 2016

Kapitel V: Begegnungen 1970-1985

  Schließen gewidmete Gedichte einen dritten Leser nicht eigentlich aus, besonders wenn man die angesprochene Person überhaupt nicht kennt und sicherlich durch den Spruch auch nicht weitergehend kennen lernt? Soll man die Indiskretion begehen, in das Zwiegespräch zwischen Dichter und Adressat neugierig hinein zu schauen? Gut, es würde wohl nicht im Druck erscheinen, wäre es ausschließlich privater Natur. Dennoch bleibt ein Unbehagen, dass hier Dinge formuliert werden, die sich einem Dritten nicht ganz auftun in seiner indirekten Mitwisserschaft. Bei Stefan George, der diese Gattung in breitem Umfang pflegte, die Texte mit Namenskürzeln überschrieb, fühlt sich der Leser oft ausgeschlossen, weil ihm die evozierten Situationen unbekannt sind. George nennt diese kurzen Gedichte „Tafeln“.[1] Er  versieht diese kleine Sammlung mit einer Aufschrift:
Verstattet dies spiel: eure
Flüchtig geschnittenen
Schatten zum schmuck für
Meiner angedenken saal[2]

Damit wird vor allem deutlich, dass sich der Dichter spielerisch Andenken verschafft an die bedichtete Person, die die Ehre erfährt,  in eine Freundesgalerie eingefügt zu werden. Würde der Adressat das auch so empfinden?
  Im Exkurs hatten wir mit Berthold Daut in seinem letzten Aufsatz über die „Geladenen in T.“  gesehen, dass formal bei George diese Tafeln gegen Ende der Einzelwerke  auftauchen. Jedem der Angesprochenen gebührt dabei eine ganze Seite. Oft spricht der Dichter den Adressaten in der zweiten Person an mit einem „Du“ als Auftakt, verfällt dann aber auch in Gemeinsames mit einem „wir“.[3] Gedenken, Andenken und oft auch Abschied charakterisieren  diese ehernen Freundes- und Feindestexte.
  Wenn bei Berthold Daut im seinem vorletzten Kapitel von „Stimmen und Schatten“ „Begegnungen“ der letzten fünfzehn Jahre gesammelt werden, so sind sie keine unmittelbare Reaktion auf die Krise des vorangegangenen Kapitels. In formaler Hinsicht scheint diese kleine Gattung präformiert und es ist zu untersuchen, was ihre spezifische Eigenart ausmacht.
Bis auf einen Fall werden die angesprochenen Personen im Titel mit ihrem vollen Namen genannt, am Ende des Zyklus (S. 93 ff.) auch die literarischen Wegbegleiter Karl Wolfskehl und Stefan George selber, was wir im Exkurs deutlich zu machen versucht haben. Ist die formale Eröffnung vieler dieser Gedichte ein direktes „Du“ in georgischer Tradition oder nur eine natürliche Ansprache nach der Namensnennung?
  Diese „Begegnungen“  nachzuvollziehen, ist schwierig, und es fehlt für den Leser das Gemeinsame, das in der Person des Autors liegt. Am Beispiel „Für Niklas Rahn“ (S. 82)  scheint sich ein Einstieg leichter zu vollziehen, zumal ausnahmsweise von dem Begegneten eine Entgegnung vorliegt. Zunächst Daut:
Für Niklas Rahn

Du kommst.
Da legt sich das wetter.
In dir ist leuchten.

Die mütze sitzt dir schief
Ein weltmann bist du
In vertragnen sachen.

Du gibst mir dein gedicht
Von den rostroten blüten.
Da spüre ich
Wie ahnungslos ich bin:
Ich weiss viel von dir
Und weiss nichts!

Niklas Rahn[4]
Bert

Du, Bert, ich seh dich
Wie du genüsslich grinst und
Dabei deinen Kopf schief legst
Wie du den Mund
Gutmütig spitzt und etwas sagst
Wie du an deiner Zigarette ziehst
Das Leben lebst in vollen Zügen
Im Kreise der Geladenen,
Wie du die Nase rümpfst
Und zugleich lachst und sagst
Das ist doch klasse.

Du, Bert, ich seh dich
Wie du mit der Rechten
Am Schnurrbart drehst
Und dabei vor dich starrst,
Wie nichts sich regt
In deinem Gesicht, dein Lächeln
Höchstens hilflos kommt und man weiß
Da ist etwas,
Du, Bert, ich seh dich
Wie deine Stirn sich faltet
Und du fragst
Ja wirklich?

  Beiden Gedichten eignet ein inhaltlicher Dualismus von Außen und Innen, die in einem überraschenden Widerspruch zueinander stehen. Während  Niklas Rahn eine detaillierte Beschreibung Berts vornimmt, die im zweiten Teil  erstarrt und nicht mehr dessen Reflexionsvorgang erfasst, verengt sich in Berthold  Dauts Gedicht die Wahrnehmung  des Weltmannes im Wetter und schlägt bei der Entgegennahme seines Gedichtes in das Paradox um, dass er von seinem Gegenüber nichts weiß, zumindest nicht, dass er Gedichte schrieb, was wohl ein völlig neues Licht auf ihn warf.
  In dem Gedicht „Für E.D.“ (S.80)  verschleiert Dauts Metaphorik geradezu die Wahrnehmung und man fragt sich, ob die Widmung nur ein Anlass ist, vom eigenen Seelenzustand in Rollenspielen zu sprechen:

Du drehst am runenrad
du wirfst den rollenden leuchtball
ins sommerliche feld.
.. (S. 80)
Das Ich wird auf sich selbst zurück geworfen in einer metaphysisch hyperbolischen Ausweitung;

Hier bin ich
oft im zwielicht gewesen
hier warf ich mein aug in den spiegel
hier sprach
der andre in mir mit den engeln.

Heut fing ich
einen heissen tropfende stern.

Neben diesen bildlich überfrachteten Ansprachen  findet sich auch ein überraschendes  direktes Gegenüber, „Kretisch braun im gesicht“ (S. 83), mit dem man sich verabredet. Auch in „Für Ulf Wetter“ (S. 84) wird das Gemeinsame erst geplant, „Gehen wird auf den flohmarkt uns erinnern!“, dann aber als Erinnertes angefügt. Auch bei Thomas Berger (S. 85)  „.. verdichtete /sich  mir erinnertes Leben“ und verbleibt „als dunkles vermächtnis“ einer Reise in sehr persönlichen Anspielungen.
Unbenannt ist eine folgende weibliche Person, von der man meinen könnte, sie existiere nicht, weil man sich in die Bildwelt der Lasker-Schüler versetzt fühlt. Auch in dieser imaginären Begegnung haben wir die bekannten Formelemente in der persönlichen Adaptierung Berthold Dauts, deutlich die Ich-wir-du Abfolge z.B., die sich am Ende selber auf  hier im Text leere Tafeln setzt:
DU, mit früchten bekränzt,
süsslippig, tänzerin,
das mondhorn am gürtel.

WIR sind in silbernen schuhen
gekommen
auf dem wunderteppich
aus Saba,
wo das gras bleicht unter den herden.

ICH liege bei dir
im mäander unserer gemeinsamen haut
eingenäht
mit den sichen des glücks.
Ich weiss:
Unsere namen
stammen vom Sinai
stehn auf den tafeln.
(S. 89)
Die poetisch sublimierte Begegnung lässt sich über diese literarische Dislozierung hinaus noch steigern in „Auf das Blau ihrer Augen“ (S. 90), die im Konjunktiv spricht: „Wenn ich im überblühten hain dich träfe“.  Nach dem Eintauchen in den „spiegel der meditation“ würde er „auf feldern der Myosotis Palustris neue erwachen.“ Das klingt natürlich für einen Abschied schöner als „Sumpf-Vergissmeinnicht“.
  Zwei Gedichte an den Sohn Stefan umschließen die „tombeau-Gedichte an George“: zuerst ein elfzeiliges Geburtstagsgedicht („ Dies schenk ich DIR zum elften“, S. 91), als Nr. 10 „Elf runde Steine von Irlands elf stränden“ und sodann abgesetzt vor den zehn Gesängen als Schlussgedicht von „Stimmen und Schatten“: „Für Stefan“, S. 99. Hier verliert sich der Vater in Kindheitserinnerungen, die in der sich abzeichnenden Situation der Trennung verlässliche Steine im Treibsand der Zeit bleiben.

   Seit den „Sprüchen zur Lage“ (Kap. IV), die erneut die Schaffenskrise thematisierten, und den „Begegnungen“ (Kap. V) mit den Eviokationen der toten Dichter, vor allem Georges, geht es zum Abschied von intensiv erlebten dichterischen Zuständen, die die Grenzen entlehnter Formen erweiterten und zuweilen eher ungewollt sprengten. Die Abfolge der Jahreszeiten ist dabei ein Leitmotiv gewesen. Am Schluss dieser „Stimmen und Schatten“ hat Berthold Daut sein fünfzigstes Lebensjahr überschritten. Es sollten acht Jahre vergehen, bis der kunstvoll angelegte Band erscheinen sollte.













[1] Vgl. Das Jahr der Seele. GSA IV, 1928, S. 76-87 und besonders S. 79:“.. Erlaubt dass ich auf meine dächtnistafel/Den frühern gegner grabe – tu desgleichen..“. Alle Tafeln sind achtzeilig.
[2] Ebda., S. 73.

[3] Vgl. ebda. S. 82 „A.H.“: Die ersten vier Zeilen heben mit „Du“ an, die zweiten mit „Wir“. George öffnet das Grundschema später z.B. in „ Sprüche an die Lebenden“ und „An die Toten“ (nur mit vollen Vornamen), vgl. „Das neue Reich“, GSA IX, 1928, S. 93 ff.
[4] Manchmal sind blühende Tage. Gedichte. Bochum 2007, S. 39.

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